Tasria

80 Tage für ein Mädchen

An Heiligabend feiern Christen die Geburt Jesu. Juden lesen an Schabbat Schemot in der Tora von der Geburt Mosches. Foto: Getty Images/iStockphoto

Tasria

80 Tage für ein Mädchen

Warum die Mutter nach der Geburt einer Tochter länger unrein ist als nach der Geburt eines Sohnes

von Rabbiner Avichai Apel  05.04.2019 10:00 Uhr

»Die Tochter des Vaters« oder »der Sohn seiner Mutter« – so hört man es ab und zu im Familienkreis, wenn eine starke Nähe beschrieben werden soll. Hängt dies nur von den Familienbanden ab, oder gibt es da noch etwas im Kern, das solch eine Nähe stärkt oder schwächt?

Die Eltern beeinflussen das Leben ihres Kindes. Genetisch gesehen liegt das auf der Hand. Drei beteiligen sich an der Geburt eines Kindes. Vom Vater kommt alles Weiße: die Knochen und die Sclera, das Weiße in unseren Augen. Von der Mutter kommt alles Rote: Haut, Fleisch, Blut, Haare sowie die Pupillen. Und der Allmächtige verleiht dem Körper die Seele. So steht es im Talmud (Kidduschin 30a).

Im Laufe unseres Lebens besteht die Gefahr, dass sich die natürliche Verbindung zwischen Kind und Eltern löst und der Abstand immer größer wird. Die Tora stellt dies jedoch als Voraussetzung für eine erfolgreiche Ehe dar: Ein Mann muss seine Eltern verlassen und sich an seine Frau binden (1. Buch Mose 2,24).

Wir lesen in unserem Wochenabschnitt auch davon, wie sich die Frau nach der Geburt spirituell reinigt.

halachot In unserem Wochenabschnitt geht es um Halachot und Mizwot von Reinheit und Unreinheit. Im heutigen Alltag sind sie nicht mehr sehr präsent. Doch zur Zeit des Tempels waren sie wichtiger Bestandteil des Lebens. Heute beziehen sich diese Fragen vor allem auf die Kohanim, die sich nicht auf einem Friedhof oder unter einem Dach mit einer Leiche aufhalten dürfen (auch nicht im Krankenhaus oder im Flugzeug).

Des Weiteren geht es in unserer Parascha um das Eheleben in der Zeit der monatlichen Periode, wenn die Frau für ihren Mann Nidda ist. Doch ist dies nicht ausschließlich ein Zustand der Frau, sondern er betrifft beide Ehepartner.

Wir lesen in unserem Wochenabschnitt auch davon, wie sich die Frau nach der Geburt spirituell reinigt. Dabei gibt es unterschiedliche Fristen, je nachdem, ob die Frau ein Mädchen oder einen Jungen bekommen hat.

Nach der Geburt eines Jungen braucht die Frau 40 Tage: sieben Tage der Unreinheit und weitere 33 Tage, um die Reinheit wiederzuerlangen. Nachdem ein Mädchen geboren wurde, sind 80 Tage nötig: 14 Tage der Unreinheit und weitere 66 Tage, um wieder kultisch rein zu sein. Rabbi Jischmael erklärt in der Mischna, dass hier die Dauer der Gestaltung eines männlichen und eines weiblichen Embry­os entscheidend ist. Allerdings wird bereits in der Mischna mit ihm darüber dis­kutiert, und nicht alle teilen seine Meinung (Nidda 30a).

Für Mädchen gelten die gleichen Voraussetzungen, jüdisch zu sein wie bei Jungen.

Wenn die Tora diese Regeln beschreibt, erwähnt sie auch die Pflicht der Brit Mila. Nach den ersten sieben unreinen Tagen der Mutter wird ihr Sohn am achten Tag beschnitten, dann folgen die 33 reinen Tage.

beschneidung Die Beschneidung ist das körperliche Zeichen, dass der Vater seinem Sohn zu setzen hat, damit der Junge als Jude markiert ist und sein Bund mit G’tt bei ihm für immer stark und deutlich bleibt. Natürlich kann und muss das Kind noch lernen und sich damit beschäftigen, was es für sein künftiges Leben bedeutet, jüdisch zu sein. Doch ist es ein klares und eindeutiges Zeichen.

Ein Mädchen wird nicht beschnitten. Aber für sie gelten die gleichen Voraussetzungen, jüdisch zu sein und aktiv am religiösen Leben und am G’ttesdienst teilzunehmen.

Vorbild für das Mädchen ist in den meisten Aspekten die Mutter. Der Sohn übernimmt die männlichen Eigenschaften und Kompetenzen von seinem Vater. Er beobachtet den Vater bei der Arbeit und bei seinem Umgang mit anderen Menschen. Er lernt von ihm nicht nur zu Hause, sondern vor allem draußen, in der Öffentlichkeit. Um sich darauf vorzubereiten, ihre Tochter zu Ehrfurcht, Barmherzigkeit, Bescheidenheit oder Gastfreundschaft zu erziehen, braucht die Mutter eine viel längere Zeit, argumentiert Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808–1888). Die doppelte Zeit von Unreinheit und Reinheit sorgt dafür, dass die Mutter zu verstehen lernt, wie wichtig ihre Aufgabe ist.

So wie die Mutter sieben Tage unrein ist, gilt auch ihr Sohn durch die Vorhaut sieben Tage als unrein und wird daher erst am achten Tag beschnitten.

Wenn nicht bei der eigenen Mutter, wo kann die Tochter es sonst lernen? Die jüdische Mutter trägt viel mehr Verantwortung für die erfolgreiche Erziehung der Tochter als der Vater gegenüber dem Sohn. Der Vater muss ihn zwar die Tora lehren und ihm beruflich helfen – doch dies alles sind Kenntnisse und Fertigkeiten, die er auch von anderen Menschen lernen kann.

Die Eigenschaften, die die Tochter bei ihrer Mutter sieht und die sie sich aneignet, sind nur von der Mutter zu lernen. Deshalb ist es laut Rabbiner Hirsch umso wichtiger, dass die Mutter sich darauf vorbereiten kann.

Folgen Rabbi Chaim ben Mosche Atar (1656–1733) sieht einen Zusammenhang zwischen dem Vater und seiner Tochter sowie der Mutter und ihrem Sohn. Chawas Sünde hat dazu geführt, dass die Frauen nach der Geburt in die Zeit der Unreinheit, des Blutverlusts kommen. Chawa wurde damit bestraft, und alle Frauen tragen die Konsequenzen, wenn sie Kinder bekommen.

So wie die Mutter sieben Tage unrein ist, gilt auch ihr Sohn durch die Vorhaut sieben Tage als unrein und wird daher erst danach, am achten Tag, beschnitten.

Den Vater beeinflusst die Geburt des Kindes nicht. Er erlebt weder Tage der Unreinheit noch Tage der Reinheit. Aus diesem Grund wird an seiner Tochter am achten Tag nach der Geburt auch kein ritueller Akt vollzogen. Die Mutter aber gilt nach der Geburt der Tochter 14 Tage lang als kultisch unrein: die sieben Tage für sich und weitere sieben Tage für ihre Tochter, die eines Tages dem gleichen Lebenszyklus unterliegen wird.

Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Frankfurt/Main und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD).

Inhalt

Der Wochenabschnitt lehrt die Gesetze für die Wöchnerin und die Dauer der Unreinheit. Für ein männliches Kind wird zudem festgelegt, dass es am achten Tag nach der Geburt beschnitten werden soll. Außerdem übermittelt Tasria Regeln für Aussatz (Tsora’at) an Körper und Kleidung. Es wird detailliert geschildert, wie dieser Aussatz festgestelltwerden kann und wie dagegen vorzugehen ist.

3. Buch Mose 12,1 – 13,59

Michael Fichmann

Essay

Halt in einer haltlosen Zeit

Wenn die Welt wankt und alte Sicherheiten zerbrechen, sind es unsere Geschichte, unsere Gebete und unsere Gemeinschaft, die uns Halt geben

von Michael Fichmann  16.10.2025

Sukka

Gleich gʼttlich, gleich würdig

Warum nach dem Talmud Frauen in der Laubhütte sitzen und Segen sprechen dürfen, es aber nicht müssen

von Yizhak Ahren  06.10.2025

Chol Hamo’ed Sukkot

Dankbarkeit ohne Illusionen

Wir wissen, dass nichts von Dauer ist. Genau darin liegt die Kraft, alles zu feiern

von Rabbiner Joel Berger  06.10.2025

Tradition

Geborgen unter den Sternen

Mit dem Bau einer Sukka machen wir uns als Juden sichtbar. Umso wichtiger ist es, dass wir unseren Nachbarn erklären können, was uns die Laubhütte bedeutet

von Chajm Guski  06.10.2025

Sukkot

Fest des Vertrauens

Die Geschichte des Laubhüttenfestes zeigt, dass wir auf unserem ungewissen Weg Zuversicht brauchen

von Rabbinerin Yael Deusel  06.10.2025

Sarah Serebrinski

Sukkot: Freude trotz Verletzlichkeit

Viele Juden fragen sich: Ist es sicher, eine Sukka sichtbar im eigenen Vorgarten zu bauen? Doch genau darin – in der Unsicherheit – liegt die Botschaft von Sukkot

von Sarah Serebrinski  05.10.2025

7. Oktober

Ein Riss in der Schale

Wie Simchat Tora 2023 das Leben von Jüdinnen und Juden verändert hat

von Nicole Dreyfus  05.10.2025

Übergang

Alles zu jeder Zeit

Worauf es in den vier Tagen zwischen Jom Kippur und Sukkot ankommt

von Vyacheslav Dobrovych  03.10.2025

Kirche

EKD: Gaza-Krieg nicht zum Anlass für Ausgrenzung nehmen

Ratsvorsitzende Kirsten Fehrs: »Offene und gewaltsame Formen des Antisemitismus, besonders in Gestalt israelbezogener Judenfeindschaft, treten deutlich zutage«

 03.10.2025