Rosch Haschana ist für seine zahlreichen Bräuche bekannt, insbesondere für die »Simanim« (wörtlich: Zeichen). Diese Tradition stammt aus dem Talmud (Traktat Horiyot 12a) und besteht darin, verschiedene Lebensmittel zu essen, deren Namen oder Eigenschaften eine positive Assoziation haben. Gleichzeitig wird ein kurzes Gebet gesprochen, in dem Gʼtt gebeten wird, diese Assoziationen im kommenden Jahr zu verwirklichen. In diesem Zusammenhang wird auch der Granatapfel gegessen.
Dieser Brauch wird erstmals in den Schriften der Gaonim (10. Jahrhundert) erwähnt. Auch Rabbi David Abudraham (14. Jahrhundert) erwähnt ihn und fügt das kurze Gebet hinzu, das dabei gesprochen werden soll: »Jehi razon … schejirbu zechujoteinu kerimon« (Möge dein Wille sein … dass unsere Verdienste sich vermehren wie die Kerne des Granatapfels).
Der Vergleich des Granatapfels mit Mizwot beruht auf einem Kommentar des Talmuds zu dem Vers in Schir HaSchirim (4,3): »Wie die Hälfte eines Granatapfels ist deine Schläfe hinter deinem Schleier.« Selbst die »leeren Menschen« (Menschen auf einem niedrigen spirituellen Niveau) des jüdischen Volkes sind voll mit Mizwot wie ein Granatapfel.
Wenn der Granatapfel im Talmud die Anzahl der Mizwot der »leeren« Menschen symbolisiert, warum bitten wir Gʼtt an Rosch Haschana, dass unsere Verdienste so zahlreich wie die Kerne eines Granatapfels werden?
»… dass unsere Verdienste sich vermehren wie die Kerne des Granatapfels.«
Eine mögliche Antwort ist, dass in Schir HaSchirim von einem halben Granatapfel die Rede ist, während wir an Rosch Haschana darum bitten, dass unsere Verdienste so zahlreich wie die Kerne eines ganzen Granatapfels sein mögen.
Rabbi Mosche Sofer (18. Jahrhundert) schreibt, dass der Granatapfel 613 Kerne enthält – entsprechend der Anzahl der Gebote und Verbote im Judentum. Ein Student der Columbia University, Alexander Haubold, wollte das genau wissen und zählte die Kerne von über 200 Granatäpfeln. Das Ergebnis war, dass ein Granatapfel zwar zwischen 165 und 1370 Kerne enthält, im Durchschnitt aber genau 613 Kerne!
Einige der 613 Mizwot kennen selbst nichtreligiöse Juden. Beispielsweise das 243. Gebot: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.« Rabbi Akiwa nennt es im Talmud »se klall gadol baTora« – das Grundprinzip der Tora. Andere Gebote aber sind viel unbekannter.
Um die Anzahl unserer Verdienste der Anzahl der Kerne im Granatapfel anzunähern, sind im Folgenden einige der 613 Gebote aufgelistet, von denen Sie vielleicht noch nicht so häufig gehört haben und die auch heute noch ohne großen Aufwand erfüllt werden können.
Das 23. Gebot der 613 Gebote ist das Ehren von Vater und Mutter, wie es steht: »Ehre deinen Vater und deine Mutter« (2. Buch Mose 20,12). Manche denken, dass man dieses Gebot nur erfüllt, wenn man etwas Außergewöhnliches für seine Eltern tut, aber in Wirklichkeit erfüllt man dieses Gebot jedes Mal, wenn man seinen Eltern auch nur den kleinsten Wunsch erfüllt, beispielsweise ein Glas Wasser bringt. Der Gedanke hinter diesem Gebot ist das Gefühl der Dankbarkeit gegenüber den Menschen, denen wir unser Leben verdanken und die uns mit allem Notwendigen versorgt haben. Dieses Gebot ist eines der wenigen in der Tora, für die ein langes Leben verheißen wird.
Das 66. Gebot ist der Verleih von Geld an einen bedürftigen Mitmenschen, wie es steht: »Wenn du meinem Volk, dem Armen neben dir, Geld leihst« (2. Buch Mose 22,24). Obwohl in diesem Vers von einem Bedürftigen die Rede ist, erfüllt man dieses Gebot, wenn man das Geld jedem leiht, der es braucht, weil er in gewissem Sinne bedürftig ist. Unsere Weisen sagen über den Menschen, der dieses Gebot erfüllt, wie beliebt, begünstigt und gesegnet er sein wird. Sie sagen auch, dass es in gewisser Hinsicht besser ist, einem Bedürftigen Geld zu leihen, als es ihm zu schenken, weil es ihn weniger beschämt.
Das 235. Gebot ist, Unvoreingenommenheit zu wahren, wie es steht: »Nach Recht richte deinen Nächsten« (3. Buch Mose 19,15). Eigentlich richtet sich dieses Gebot an einen Richter, der seinen Mitmenschen nach Recht und Gesetz beurteilen soll. Unsere Weisen leiten daraus aber ab, dass jeder, der Zeuge wird, wie ein Mitmensch eine scheinbar verbotene Handlung begeht, verpflichtet ist, unvoreingenommen zu bleiben und zu versuchen, sein Handeln zu rechtfertigen, bis seine Schuld zweifelsfrei erwiesen ist.
Das 257. Gebot ist das Ehren von Greisen und Weisen, wie es steht: Vor einem greisen Haupte stehe auf und ehre das Angesicht eines an Weisheit Gereiften (3. Buch Mose 19,32). Dieses Gebot besteht darin, vor einem greisen Menschen (ab 70 Jahren) oder vor einem Gelehrten aufzustehen, sobald sie sich in der Nähe befinden (im Radius von circa zwei Metern). Diese Menschen verdienen unseren Respekt, weil sie uns mit Gʼtt und den vorherigen Generationen verbinden.
Das 538. Gebot ist die Rückgabe eines verlorenen Gegenstandes an den rechtmäßigen Besitzer, wie es steht: »Du sollst nicht den Ochsen deines Bruders oder sein Schaf verlaufen sehen und dich ihnen entziehen wollen; vielmehr hast du sie deinem Bruder zurückzubringen« (5. Buch Mose 22,1). Obwohl die verlorenen Gegenstände in der Tora Tiere sind, erfüllt man dieses Gebot auch, wenn man jeden anderen verlorenen Gegenstand zurückgibt. Die Halacha schreibt vor, dass der Besitzer den verlorenen Gegenstand vorher beschreiben muss, um zu beweisen, dass er der rechtmäßige Besitzer ist.
Das 546.Gebot ist das Anbringen eines Zaunes auf dem Dach beim Bau eines Gebäudes, wie es steht: »Wenn du ein neues Haus baust, so mache deinem Dach ein Geländer« (5. Buch Mose 22,8). In diesem Gebot geht es darum, sein Eigentum zu sichern, damit niemand zu Schaden kommt. Der Midrasch Sifri sagt, dass dieses Gebot auch dann gilt, wenn man ein neues Haus gekauft, geerbt oder geschenkt bekommen hat. Außerdem ist es nicht nur auf das Dach beschränkt, sondern gilt auch für Löcher im Boden (ab 80 Zentimeter Tiefe), Gruben und Ähnliches. Beim Anbringen des Zauns wird ein besonderer Segen gesprochen.
Das 588.Gebot ist das Bezahlen eines Arbeiters am Tag der Vollendung der Arbeit, wie es steht: »An seinem Tag gib ihm seinen Lohn, und lasse die Sonne nicht darüber untergehen« (5. Buch Mose 24,15). Die Tora befiehlt uns, einen Arbeiter unmittelbar nach Beendigung seiner Arbeit zu entlohnen, und wenn man dies tut, erfüllt man dieses Gebot. Was genau als »Ende der Arbeit« zu verstehen ist, hängt von der Art des Arbeitnehmers und der Tätigkeit ab.
Das 613. Gebot der 613 Gebote schließlich ist das Schreiben einer Torarolle, wie es steht: »Und nun, schreibt euch auch diesen Gesang nieder« (5. Buch Mose 31,19). Eigentlich hat jeder Mensch dieses Gebot, seine eigene Torarolle zu schreiben oder schreiben zu lassen. Es ist jedoch sehr teuer, sich eine eigene Torarolle schreiben zu lassen, sodass es nicht viele Menschen gibt, die sich das leisten können (nach einigen Meinungen erfüllt man dieses Gebot auch, wenn man nur einen Teil bezahlt). Rabbi Ascher Ben Jechiel (Rosch, 13. Jahrhundert) ist der Meinung, dass dieses Gebot vor allem dazu dient, das Lernen der Tora zu ermöglichen. Nach dieser Meinung erfüllt man heutzutage dieses Gebot auch dadurch, dass man Bücher der mündlichen Lehre drucken lässt oder sie schlichtweg kauft.