Fünf Bücher werden in unserer Tradition als Megillot bezeichnet: Esther, Schir haSchirim (das Hohelied), Ruth, Eicha und Kohelet. Jedes der Bücher wird an einem besonderen Feiertag gelesen, dessen Bedeutung sich im zentralen Thema des Buches widerspiegelt.
Doch die Verbindung zwischen Schawuot – dem Fest, an dem wir die Annahme der Tora durch das jüdische Volk feiern – und der Megillat Ruth wirkt auf den ersten Blick sehr unklar.
Der Tradition nach wird das Buch Ruth am zweiten Tag von Schawuot gelesen. Das Buch handelt von einer moabitischen Frau, die nach dem Tod ihres Mannes ihrer israelitischen Schwiegermutter Naomi mit den berühmten Worten folgt: »Wohin du gehst, werde ich gehen, wo du bleibst, werde ich bleiben, dein Volk ist mein Volk, und dein G’tt ist mein G’tt.« Sie nutzt das Recht der Armen, die Reste der Gerstenernte aufzulesen, begegnet ihrem Verwandten Boaz, heiratet ihn und wird zur Ahnin von König David.
Parallele Welche Parallelen kann man zwischen dem Tag Schawuot und der Megillat Ruth ziehen? Auf diese Frage gibt es mehrere mögliche Antworten: Erstens war Ruth eine Vorfahrin von König David, der an Schawuot geboren ist und auch an diesem Tag starb.
Zweitens wird Schawuot in der Tora als »Chag haKatzir«, als Fest des Erntens, bezeichnet. Die Geschichte des Buchs Ruth spielt in der Zeit, als die Ernte gesammelt wurde, und verschafft uns einen Einblick, wie die Armen im Volk Israel dabei behandelt wurden – nämlich mit Empathie, Mitgefühl und Verständnis.
Drittens hat das gesamte Volk Israel an Schawuot, als wir die Tora am Berg Sinai bekommen haben, mit der Annahme der Tora und ihrer Gebote einen Übertritt zum Judentum vollzogen. In der Tat erfahren wir auch die Bedingungen für einen Übertritt, nämlich Brit Mila (Beschneidung) für männliche Konvertiten, das Untertauchen in der Mikwe (rituelles Tauchbad) und die bedingungslose Akzeptanz der Gebote (Kabbalat Mizwot) aus den entsprechenden Stellen der Tora.
Konversion Auch bei der Geschichte von Ruth handelt es sich um einen Übertritt zum Judentum, den die Protagonistin der Geschichte vollzogen hat. Die Gematria (der Zahlenwert) des Namens Ruth ist 606, was darauf hinweist, dass sie zusätzlich zu den sieben Noachidischen Gesetzen weitere 606 Gebote auf sich genommen hat. Das macht die Gesamtsumme von 613 Geboten aus.
Es gibt natürlich auch andere Parallelen zwischen der Geschichte von Ruth und dem Tag Schawuot. Bemerkenswert ist, dass in vielen Geschichten und Mythen verschiedener Kulturen immer wieder eine Geschichte von einem jungen Mann aus armen Verhältnissen erzählt wird, der zum Anwärter auf den Königsthron wird – und bei dem sich später herausstellt, dass er doch königlichen Blutes ist. In der Geschichte von Ruth wird deutlich, dass sowohl König David wie auch später der Maschiach Nachkommen einer armen moabitischen Konvertitin sind, die durch eigene Anstrengung spirituelle Größe erreicht hat.
Genau genommen kann man dasselbe über das gesamte jüdische Volk sagen. Wir sind alle Nachkommen der Götzendiener, die einst von G’tt aus der ägyptischen Sklaverei befreit wurden und die später zum auserwählten Volk, zum Volk der Priester, zum Volk des Buches, des Fortschritts und der Forschung geworden sind. Insofern kann man die zentrale Aussage des Buchs Ruth sowie des Schawuotfestes so deuten, dass man keinen Menschen von vornherein abschreiben darf.
Sternstunde Denn wie die Mischna in Pirkej Awot sagt, gibt es keinen, der niemals eine Sternstunde hätte. Wir wissen erst dann, was aus einem Menschen werden kann, wenn wir ihm eine Chance geben und ihm den Aufstieg ermöglichen. In diese Richtung deutet der berühmte Rabbiner Netziw (Rabbi Jehuda Tzwi Berlin, 1817–1893) das Gebot »Weahawta et Hager« (»und liebe den Fremden«), das in der Tora öfters erwähnt wird als das Gebot der Nächstenliebe. Denn es steht geschrieben: »Liebe den Fremden, denn Fremde wart ihr in Ägypten.«
Laut Netziw waren wir als Sklaven Teil der untersten Schicht der ägyptischen Gesellschaft. Keiner hätte es jemals für möglich gehalten, dass aus uns noch etwas werden kann. Dennoch haben wir es mit G’ttes Hilfe geschafft, uns zu einem spirituellen Volk, zum Volk des Buches und der Denker zu entwickeln. Aus diesem Grund sollten wir niemals den Glauben an den Menschen verlieren. Wir sehen das am Beispiel von Ruth, wir sehen es am Beispiel des jüdischen Volkes – mögen wir noch viele andere Beispiele dafür erleben!