Im Januar könnte das politische Berlin um einige Experten-Kommissionen reicher sein. Dann sollen Historiker, Archivare und Museumsleiter darüber beraten, wie sich zwei Bundestagsbeschlüsse aus dem Herbst umsetzen lassen. In beiden geht es um die Einrichtung eines Erinnerungsortes an die Opfer der NS-Vernichtungskriege in Europa.
Am 9. Oktober nahm das Parlament einen von Union und SPD im Kulturausschuss erarbeiteten Antrag an, der an diesem Ort aller Opfer der Vernichtungskriege gedenken will. Am 30. Oktober votierten die Abgeordneten dann für einen überfraktionellen Antrag, der ein Denkmal für die polnischen Opfer favorisiert.
»Mit der Billigung beider Anträge hat das Parlament der Regierung eine schwierige Aufgabe gestellt«, fasst Martin Aust den Stand der Dinge zusammen. Der Bonner Osteuropa-Historiker nimmt seit Jahren an der Debatte teil, die 2013 mit einem Vorstoß von Peter Jahn, dem Gründungsdirektor des Deutsch-Russischen Museums Berlin Karlshorst begann.
Jahn schlug damals vor, einen Gedenkort für die Opfer der NS-Lebensraumpolitik in Polen und der Sowjetunion einzurichten. Es folgte 2017 eine Initiative um den ehemaligen Präsidenten des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung, Florian Mausbach, für ein Polen-Denkmal. Schließlich brachte 2019 der Wissenschaftliche Beirat der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas ein Dokumentationszentrum zur Erinnerung an die deutsche Besatzungsherrschaft auf dem ganzen Kontinent ins Spiel.
Inhaltlich überschneiden sich die beiden Bundestagsbeschlüsse vom Herbst zu Teilen. Tatsächlich verbergen sich dahinter jedoch sehr unterschiedliche Motive. Es geht um das Spannungsfeld von Erinnern und Außenpolitik. Und es geht um Machtfragen.
Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, CDU-Generalsekretär Paul Ziemak, aber auch Außenminister Heiko Maas und Dietmar Nietan (beide SPD) gehören zu denen, die hinter den Kulissen Druck für ein Polen-Denkmal machen. Sie begründen das mit außenpolitischen Erwägungen. Ein solches Denkmal könne auch »zur Vertiefung der besonderen bilateralen Beziehungen« mit dem Nachbarland beitragen.
Der SPD-Abgeordneten Marianne Schieder, die als zuständige Berichterstatterin ihrer Fraktion im Kulturausschuss den ersten Antrag auf den Weg brachte, geht es um die Art des Erinnerns. Das Leid, das die Deutschen über die Völker Europas brachten, dürfe man nicht gegeneinander aufrechnen.
Dass der Bundestag bereits im Haushalt für 2021 das Geld für drei Referentenstellen bewilligte, um dafür ein erstes Konzept zu erarbeiten, werteten Schieder und ihre Mitstreiter zunächst als Erfolg. Bis sich herausstellte, dass die Federführung nicht, wie eigentlich erwartet, bei der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas liegen soll. Sondern beim Deutschen Historischen Museum, das sich bislang nach den Worten von Schieder nicht sonderlich in der Debatte hervortat.
Die Entscheidung habe sie »mittelmäßig entsetzt«, sagt Schieder, die nun befürchtet, dass die »sehr positiven Ansätze«, die der Direktor des Polen-Instituts, Peter Oliver Loew, und der Direktor der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas, Uwe Neumärker, im Sommer gemeinsam erarbeitet hatten, keine Rolle mehr spielen werden. Dabei hatte es noch im Koalitionsvertrag von SPD und Union geheißen: »Wir stärken in der Hauptstadt das Gedenken an die Opfer des deutschen Vernichtungskrieges im Osten im Dialog mit den osteuropäischen Nachbarn.«
Immerhin sieht das Konzept von Kulutrstaatsministerin Monika Grütters (CDU) vor, dass Stiftungsdirektor Neumärker in beiden neu eingerichten Arbeitsgruppen mitarbeiten soll, »um entsprechend dem Beschluss des Bundestages die Expertise dieser Einrichtung einzubeziehen«. »Bild am Sonntag« und die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) hatten am Sonntag über das ihnen vorliegende Konzept berichtet.
Von einer Umsetzung in dieser Legislaturperiode kann allerdings keine Rede mehr sein. Das Kulturstaatsministerium und das Auswärtige Amt werden mutmaßlich in den kommenden Wochen insgesamt drei Kommissionen einsetzen, die Konzepte zu den beiden Bundestagsbeschlüssen erarbeiten sollen.
Historiker Aust wundert sich unterdessen darüber, dass eine öffentliche Debatte über den Umgang mit der Erinnerung an die Millionen Toten der Kriege nahezu komplett ausbleibt. Beim Historikerstreit 1986, der Debatte über die Rolle der Wehrmacht oder den Diskussionen über die Gestaltung des Denkmals für die ermordeten Juden Europas, habe sich die halbe Republik in einem »atemberaubend tiefschürfenden Ringen« ihrer Vergangenheit gestellt. Jetzt dagegen herrsche Funkstille. Er hoffe nun, so Aust, dass die Kommissionen »eine neue Intensität des Nachdenkens und Konzipierens erreichen - und das Verhältnis der beiden Bundestagsbeschlüsse zueinander klären«.