Das jüdische Volk ist für vieles bekannt, vor allem für seine Streitkultur. Egal, ob man in unsere religiösen Texte wie den Talmud oder in die jüdischen Gemeinden von heute blickt: Jüdinnen und Juden diskutieren viel. Was oft als negative Eigenschaft ausgelegt wird, ist im Judentum jedoch positiv konnotiert.
Mit unterschiedlichen Weltbildern und Perspektiven konfrontiert zu sein, erlaubt uns, die eigenen Standpunkte zu hinterfragen und mit Komplexität und Facettenreichtum umgehen zu können. Dies trägt also zu unserem persönlichen wie auch zu unserem kollektiven Wachstum bei.
Vor allem im vergangenen Jahr wurde innerhalb der jüdischen Gemeinschaft diskutiert wie selten zuvor. Die Justizreform von Israels Premier Netanjahu und die Frage, wie mit der rechtesten Regierung aller Zeiten in Israel umzugehen sei, zog tiefe Gräben durch die jüdische Gemeinschaft – in Israel und in der Diaspora.
Seit dem 7. Oktober sind wir alle an erster Stelle Jüdinnen und Juden
Doch dann kam der 7. Oktober. An dem Tag, an dem die Hamas in Israel einfiel und mehr Jüdinnen und Juden ermordet wurden wie an keinem anderen Tag nach der Schoa, wurde es völlig nebensächlich, wo man sich politisch verortet oder wie man sich anderweitig identifiziert. Seitdem sind wir alle an erster Stelle Jüdinnen und Juden. Oder in Hannah Arendts Worten gesprochen: Wenn du als Jude angegriffen wirst, musst du dich als Jude verteidigen.
Dass Schmerz und Trauer uns zusammenbringen, ist nichts Neues für die jüdische Gemeinschaft. Dazu reicht ein kurzer Blick in unsere Geschichte oder auf zahlreiche jüdische Feiertage. Schon immer war es eine unserer Stärken, in dunklen Zeiten einander ein Lichtblick zu sein. Das geht so weit, dass häufig die Frage aufgeworfen wird, ob Jüdinnen und Juden nur so lange trotz aller Widerstände als Volk überleben konnten, weil externe Bedrohungen und Überlebensnot sie zusammenschweißten.
Zu dieser These hatte Rabbiner Jonathan Sacks sel. A. verschiedene Arten des Volkwerdens beschrieben. Eine dieser Arten ist es, ein »Machane«, also ein Lager, zu sein. In diesem Fall kommt man als Gruppe zusammen, um sich vor externen Feinden zu schützen und eine militärische Einheit zu bilden. Eine weitere Weise, ein Volk zu sein, bezeichnete Sacks als »Edah«. Wenn eine Gruppe Edah ist, dann ist das, was sie zusammenhält, das Festhalten an einer gemeinsamen Vision. Die Gruppenidentität entsteht auf Grundlage gemeinsamer Ideale und Wertvorstellungen.
Schon immer war es eine unserer Stärken, in dunklen Zeiten einander ein Lichtblick zu sein.
Wer versucht zu definieren, welche dieser Arten auf Jüdinnen und Juden nun eher zutrifft, wird merken, dass das eine ohne das andere nicht auskommt. Am 7. Oktober wurden wir mehr zu einem Machane, als wir es jemals für möglich gehalten haben. Wir wurden gezwungenermaßen zu einer Einheit, die zusammensteht, weil sie sich gegen jene verteidigen muss, die sie auslöschen wollen. Doch trotz alldem haben wir auch nie aufgehört, Edah zu sein. Denn ungeachtet der schwierigen Lage halten wir an dem Glauben an eine sichere und selbstbestimmte Zukunft für Jüdinnen und Juden in Deutschland und Europa fest.
In der Wahrnehmung der Mehrheitsgesellschaft ist Letzteres leider bis heute unterrepräsentiert. Wer an Jüdinnen und Juden denkt, sieht uns meistens als Opfer und nicht als selbstbewusste Bürgerinnen und Bürger dieses Landes. Davon zeugen zahlreiche Zeitungsartikel der vergangenen Wochen, die zumeist mit Titeln wie »Jüdinnen und Juden haben Angst« oder »Sind wir in Deutschland noch sicher?« versehen wurden.
Und obwohl das Gefühl der Existenzangst gerade nicht aus jüdischen Räumen wegzudenken ist, ist das trotz allem nicht das Einzige, das Jüdinnen und Juden in den vergangenen Monaten beschäftigt hat. Denn uns treiben auch die Fragen danach um, wie wir konkret dafür sorgen können, jüdisches Leben in Deutschland zu sichern, oder welche Angebote noch geschaffen werden müssen, um unsere Strukturen zu festigen und Unterstützung zu bieten. Diese Form der Resilienz und der Fürsorge füreinander, in Zeiten, in denen alles um uns herum in Flammen zu stehen scheint, ist unsere Superkraft, die uns weitermachen lässt.
Vision einer resilienten und geeinten jüdischen Gemeinschaft
Kaum eine Veranstaltung trägt die Vision einer resilienten und geeinten jüdischen Gemeinschaft so deutlich zur Schau wie der Gemeindetag, der nun vor der Tür steht. Tausende Mitglieder jüdischer Gemeinden kommen für vier Tage nach Berlin, um über die Gegenwart und Zukunft jüdischen Lebens zu diskutieren, aber auch, um miteinander zu sein, sich Kraft zu geben und um dem Alltag für kurze Zeit zu entfliehen.
Wir alle haben uns diesen Gemeindetag vor ein paar Monaten sicher noch ganz anders vorgestellt. Doch jetzt kommt er genau zu der Zeit, in der wir ihn am meisten brauchen. Zu der Zeit, in der wir am meisten auf die Kraft des Zusammenhalts unserer Gemeinschaft angewiesen sind.
Mit Sicherheit wird auch auf diesem Gemeindetag wieder gestritten werden. So soll es sein. Aber nun, in einer Welt nach dem 7. Oktober, wird sich der Ton dieser Streitgespräche verändern. Denn es geht nicht mehr darum, recht zu haben oder auf der vermeintlich richtigen Seite zu stehen. Was jetzt zählt, ist nur noch, dass wir füreinander da sind und gemeinsam kämpfen. Dieses Gemeinschaftsgefühl kann uns niemand mehr nehmen.
Die Autorin ist Präsidentin der Jüdischen Studierendenunion Deutschland (JSUD).