Prophetie war einst ein jüdisches Monopol. Heute wimmelt es weltweit von Propheten. Die meisten betätigen sich derzeit eindimensional virologisch, einige EU-europapolitisch. Wird Europa »nach Corona« oder »wegen Corona« mehr oder weniger europäisch? Ich kenne die Zukunft nicht. Ich kann nur versuchen, verschiedene Faktoren abzuwägen.
»Nach Corona« ist klar: Funktionale Zusammenarbeit, im Sinne gesamteuropäischer Unabhängigkeit, ist auf diversen Feldern nötiger denn je, wenn man, im wahrsten Sinne des Wortes, überleben will. Das gilt in erster Linie für den Gesundheitssektor. Doch nicht für diesen allein.
GLOBALISIERUNGSRAUSCH Im Zuge eines rein ökonomisch geprägten, doch sich selbst idealisierenden und moralisch überhöhenden scheinkosmopolitischen Globalisierungsrausches wurden lebenswichtige Produktionen nicht nur von Medikamenten aus Europa in weit entfernte, kostengünstigere Regionen Asiens verlagert, etwa nach China oder Indien.
Dass hier, aus welchen Gründen auch immer, ein unvorhersehbarer Totalausfall, etwa eine Epidemie, eintreten könnte, wurde nicht bedacht. Zudem übersah man gerne, dass diese Billigherstellungen, jenseits der scheinkosmopolitischen Selbstbeweihräucherung, eine verkappte Form der Ausbeutung waren – und noch sind. Hier muss – und wird – sich gewiss manches ändern.
»Unabhängigkeit wiedergewinnen« heißt das Motto. Zurück nach Europa, Standort-Diversifizierung in Europa und Koordination von Europas Staaten. So oder so ähnlich die Programmüberschrift. Das ist nicht die Autarkie-Faselei von gestern oder Gestrigen, sondern das funktionale Gebot der Stunde. Hier wird es funktional mehr und politisch weniger Europa geben. Warum nicht auch Israel einbinden? Jedenfalls wird es, wie bisher, einen Kompromiss zwischen EU-ökonomischen sowie koordinatorischen Notwendigkeiten und nationalstaatlichen Interessen geben.
STAATENBUND Fazit: Verfestigt wird der Charakter der EU als Staatenbund (»Europa der Vaterländer«). Der (je nachdem) Wunsch- oder Albtraum eines Bundesstaates Europa rückt in noch weitere Ferne.
Ähnlich mein zweites Fazit: Innerhalb der EU-Staaten wird es mehr und nicht weniger institutionalisierte Regionalinteressen, sprich: Föderalismus geben. Corona hat gezeigt, dass die für eine Region (Mecklenburg-Vorpommern mit weniger C-Fällen) sinnvollen Maßnahmen eben nicht automatisch auch für andere (Bayern mit weit mehr C-Problemen) gleichermaßen notwendig oder hilfreich sind.
Zusammenarbeit ist auf diversen Feldern nötiger denn je.
Auch der internationale Vergleich untermauert diese Schlussfolgerung: Föderalistisch strukturierte Staaten wie Deutschland, Österreich und die Schweiz haben die (erste) Corona-Welle relativ gut bewältigt. Zentralistische Staaten wie Großbritannien, Frankreich oder (trotz relativer Autonomie der Basken und Katalanen) Spanien wurden von Corona eher überwältigt.
SPRACHE Die Erklärung liegt auf der Hand: Vor Ort hat man bezüglich des Ortes einen besseren Ein- und Überblick als in der fernen Zentrale. Offenbar sind auch im IT-Zeitalter kurze Wege für effiziente Kommunikation unverzichtbar. Dabei ist der Faktor Sprache, sogar Dialekt, alles andere als unwichtig.
Er hat nämlich viel mit der Mentalität und Aufnahmebereitschaft der jeweiligen Menschengruppen zu tun. Vom fernen, fremden, gar fremdsprachlichen Ort lässt sich die Mehrheit am Ort offenkundig ungern steuern. Wenn die Steuernden an Ort und Stelle sozusagen greifbar und direkt ansprechbar sind, können Hindernisse leichter beseitigt werden.
Daraus folgt: Wer nicht regionalisiert beziehungsweis föderalisiert, wird nicht nur die künftigen Corona-Probleme schwerer, wenn überhaupt, bewältigen. Keinen oder nur wenig Nachholbedarf haben hierbei Deutschland, Österreich und die Schweiz.
WIRKLICHKEIT Ich bedauere dieses Ergebnis meines Abwägens: Eine Europäische Union als Bundesstaat rückt in noch weitere Ferne. Das bedeutet jedoch keineswegs, dass man deshalb auf eine Intensivierung funktionaler Verzahnungen in Europa verzichten müsste oder sollte. Im Gegenteil, sie ist unverzichtbar. Die Europäische Union ist ein schöner Traum, der Europäische Bund bereits Wirklichkeit und als Wirklichkeit leicht zu verbessern.
Ich begrüße dieses Ergebnis meines Abwägens: Die vermehrte Beteiligung der jeweiligen Region (Föderalisierung) ist ebenso funktional unverzichtbar wie wegen der Partizipation der Menschen. Doch direkte Beteiligung nicht im Sinne direkter, sondern repräsentativer Demokratie. In einer direkten Demokratie entscheidet die schnell wechselnde, unberechenbare Stimmung. In der indirekten Demokratie bekommen die jeweiligen Repräsentanten Vertrauen auf Zeit. Die Gefahr von »Schnellschüssen« wird so verhindert. Corona hat auch gezeigt: Langfristiges Denken tut not.
Der Autor ist Historiker, Publizist und Hochschullehrer des Jahres 2017. Zuletzt erschien von ihm: »Tacheles: Im Kampf um die Fakten in Politik und Geschichte«.