Sie sollten sich zwei Bonbons vorstellen, forderte eine Islamlehrerin ihre kleinen Berliner Schülerinnen auf. Eines der beiden sei ausgewickelt, angelutscht, klebrig und dreckig. Das andere aber schön eingewickelt, rein, unbenutzt und frisch: Welches würde man wohl lieber haben? Ja, so verhalte es sich auch mit der Verhüllung von Mädchen und Frauen, die auf ihre Reinheit achten. Über dieses Beispiel für subtile Suggestion und Manipulation berichtete die SPD-Abgeordnete Lale Akgün auf einer Tagung der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin 2006.
Religiöse Vorstellungen von der Reinheit des Leibes, insbesondere des weiblichen, Dogmen und Tabus in Bezug auf den Körper, die Sexualität und den sozialen Spielraum von Gruppen und Individuen finden sich in allen Religionen, die einen patriarchalischen Vatergott ins Zentrum ihres Glaubenssystems rücken. Das gilt auch und gerade für Judentum, Christentum und Islam. Dabei kommt es allerdings auch auf den Charakter des Vaters an. Ist er eher strafend und kontrollierend oder barmherzig? Lässt er mit sich reden oder beharrt er auf seinen Anordnungen?
Gefolgschaft Kurz, sicherlich auch verkürzt, skizziert, sieht es so aus: Dem Christentum schickte sein ursprünglich tyrannischer, alttestamentarischer Gott mit Je- sus einen revolutionären, jüdischen Frühaufklärer ins Haus, der das radikale Element der Feindesliebe und des Verzeihens ins Spiel brachte. Das Judentum kannte von jeher einen diskursiv gestimmten Gott, der Debatten zulässt und Gelehrten wie Gläubigen sogar Raum für Humor bietet. Der Gott des Islam dagegen diktierte, so die Überlieferung, dem Propheten den Koran, an dessen Buchstaben sich angeblich nicht deuteln lässt. Ewig und fixiert stehen sie da, verlangen Gefolgschaft – ein Prinzip, das psychische Sicherheit verschaffen kann, gedankliche Beweglichkeit aber kaum zulässt.
Inzwischen fordern jedoch mutige Muslime in aller Welt Reformen in ihren Gesellschaften. Sie verlangen, wie die deutsch-türkische Anwältin Seyran Ates, »eine sexu- elle Revolution des Islam«. Sie warnen, wie die ebenfalls deutsch-türkische Autorin Necla Kelek, vor einem »Multikulti-Irrtum«. In Berlin veröffentlichte die Sozialarbeiterin Güner Yasemin Balci ein Buch über Alltagsgewalt im Kreuzberger Kiez. Der in München lehrende ägyptische Politologe Hamed Abdel-Samad fand den Mut, über die Torturen seiner Kindheit, über sexuellen Missbrauch und Schläge zu schreiben. Mit der Zeit sei er »zum Wissen konvertiert«. All diese Kritiker sind nicht allein, mancherorts sind große Teile der Bevölkerung in Aufruhr, zum Beispiel im Iran, wo Hunderttausende gegen das Regime der Mullahs protestieren. Oder in Marokko und Jordanien. Dort werden nach und nach die Rechte der Frauen gestärkt.
Hardliner Doch es gibt auch einen anderen Trend auf der heterogenen Landkarte der Globalisierung. Weltweit erhalten fundamentalistische Neo-Traditionalisten Zulauf, deren Feinde die »Ungläubigen«, die »Juden«, »Amerika« oder »der Westen« heißen. Freiheit wünschen sie zur Hölle. Und auf Schulhöfen in Brennpunkt-Stadtteilen hierzulande prügeln sich türkisch- und arabisch- stämmige Kinder darum, wer von ihnen der »bessere« Muslim sei. »Dabei haben diese Kinder überhaupt keine Ahnung von Religion«, seufzen strapazierte Erzieher. Verbohrt wie auf dem Schulhof geht es mitunter in der aktuellen Debatte um »Islamophobie«, Antisemitismus und Antiislamismus zu, wenn Ressentiment statt gesellschaftlicher Sorge zum Movens der Kombattanten wird. Vor allem jene muslimischen und ex-muslimischen Frauen und Männer, die ihre eigenen Communities wie auch die Mehrheitsgesellschaft dazu auffordern, von der Verfassung und der säkularen Demokratie garantierte Rechte unter Muslimen durchzusetzen, werden besonders argwöhnisch betrachtet und gleich von zwei ideologischen Fronten attackiert. Ihnen setzen auf der einen Seite die Hardliner oder »Beleidigten« aus der Herkunftsgruppe zu, die sie als Verräter beschimpfen und sogar physisch bedrohen.
Den »Beleidigten« springen auf der anderen Seite ausgerechnet kritische deutsche Publizisten bei, bagatellisieren die Berichte zu Einzelschicksalen, aus denen übertriebene Verallgemeinerungen und »totalitäre« Forderungen gezogen würden. In der Tageszeitung taz empörte sich zum Beispiel eine Fachhochschul-Professorin nicht nur über die muslimischen Islamkritiker, sondern warf zudem deren westlichen Verteidigern vor, sie verwendeten »nicht mehr so sehr das Argument ›rassischer‹ Überlegenheit«, sondern führten »die zivilisatorische Funktion des Westens« an, der »die unterdrückte Muslimin« befreien wolle, eine Haltung, die auch als »kolonialer Feminismus« bezeichnet werden könne. Auf ähnlich fragwürdige Art und Weise verklären manche Feministinnen Schleier, Kopftuch oder Burka als eine Form des Schutzes für die Würde der Frau.
Westler Insbesondere seit dem 11. September 2001 sowie den Anschlägen in London und Madrid sehen sich viele Muslime dem Generalverdacht ausgesetzt, heimlich mit dem politischen Islam zu sympathisieren – ein Verdacht, dem sie bisher wenig entgegensetzen. »Westler« wiederum stehen bei so manchen Muslimen unter Verdacht, hedonistische oder bellizistische Berserker, Vasallen eines rücksichtslosen, islamophoben Europa oder Amerika zu sein.
So heizen Diskurssperren, Paranoia und Ressentiments einander auf bis zur Denkblockade, zum Empörungsgenuss oder zufriedenem Gekränktsein. Während Schweizer und Franzosen sich gegen Minarette und Burkas wehren, fühlen viele Muslime sich durch »Antiislamismus« an Antisemitismus erinnert, und wohlmeinende, aber realitätsferne Feuilletonisten und Wissenschaftler wollen die traditionellen Muslime Europas vor muslimischen und nicht-muslimischen Islam-Kritikern in Schutz nehmen. Wenn die Verteidiger der Muslime und ihrer Menschenrechte als »Hassprediger« bezeichnet werden, schrieb die Schriftstellerin Monika Maron im Nachrichtenmagazin Spiegel, dann frage man sich: »Wer sind sie, dass sie säkularen oder gläubigen Muslimen das Recht absprechen, sich mit ihrer Kultur, ihrer Religion auseinanderzusetzen?«
Zwischen die Mühlen geraten bei alldem groteskerweise vor allem die tatsächlich Bedrohten. Zum Beispiel die Rechtsanwältin Seyran Ates, die seit ihrer jüngsten Publikation Polizeischutz braucht, weil sie von aufgebrachten Muslimen bedroht wird. Dabei wollen Islam-Kritiker aus Orient und Okzident nur verwirklicht sehen, was etwa unsere, 1949 nach der Barbarei entstandene Verfassung garantiert: Demokratie und Menschenrechte. Bald entdeckt noch jemand den fundamentalistischen Sprengsatz in unserer Verfassung, die für gefährliche Postulate steht wie die Gleichberech- tigung der Frauen, Meinungsfreiheit und Menschenwürde! Eine letztgültige Begründung für Menschenrechte, erklärte der Philosoph Richard Rorty, müsse und könne Theorie nicht liefern. Zu ihrer Legitimierung genügt die Selbstevidenz, ihre Plausibilität ergibt sich aus dem empirischen, empathischen Kontext. Weil Gewalt und Ent- mündigung Menschen massiv verletzen, ist es der ethische und politische Auftrag, Freiheit und Mündigkeit zu fordern und zu fördern. Nicht nur im Namen »Allahs des Barmherzigen« oder »Gott des Allmächtigen« wurden und werden Freiheit und Mündigkeit oft millionenfach beschnitten – sogar da, wo einem Mädchen »nur« die Furcht eingeflößt wird, dass es ohne Kopftuch einer klebrigen Süßigkeit gleicht.
missbrauch Doch von allein kommt kein Kind der Welt darauf, sein offenes Haar, seine Sexualität sündhaft zu finden. Für solche Ängste bedarf es subtiler oder offener Gewalt in der Sozialisation, wie auch die katholische Kirche sie über Jahrhunderte vertreten hat. Und um die erstickende Atmosphäre des wilhelminischen Protestantismus nachzuempfinden, muss man nur den Film Das weiße Band sehen. Inzwischen dringen demokratische Elemente nun auch in die Fugen religiöser Institutionen ein, neue Fenster werden geöffnet für mehr Licht und Luft. Ende Januar schrieb der Direktor eines katholischen Gymnasiums in Berlin einen Brief an Hunderte ehemaliger Schülerinnen und Schüler, bei denen er sich für sexuellen Missbrauch durch frühere Patres entschuldigte. Das Dokument ist ein Meilenstein. Es dränge sich die Frage auf, schrieb der Jesuit Klaus Mertes, »welche Strukturen (…) auch in der katholischen Kirche es begünstigen, dass Missbräuche geschehen und de facto auch gedeckt werden können«. Seine Antwort: »Hier stoßen wir auf Probleme wie fehlende Beschwerdestrukturen, mangelnden Vertrauensschutz, übergriffige Pädagogik, übergriffige Seelsorge, Unfähigkeit zur Selbstkritik, Tabuisierungen und Obsessionen in der kirchlichen Sexualpädagogik, unangemessenen Umgang mit Macht, Abhängigkeitsbeziehungen.« Der Pater dankte den Opfern, »die durch ihren Mut zu sprechen auch dem Kolleg und dem Orden einen Dienst erweisen«. Nicht er und nicht die Opfer sind die Verräter des Religiösen, sondern die, die eine Institution missbrauchen, um die Menschenwürde zu beschädigen.
Bedrohlich Muslime, die auf die Defizite der Institutionen und Traditionen des Islam hinweisen, handeln ebenso konstruktiv wie der Jesuit und mindestens so couragiert. Denn sie ernten dafür nicht selten physische, ja sogar tödliche Gewalt. Deshalb verdienen und brauchen sie zuallererst Solidarität. Mutig war auch der Vater von Hamed Abdel-Samad, der den in Ägypten bedrohten Sohn verteidigte, indem er als Imam von der Kanzel rief: »Wir sollten uns ärgern, weil das, was Hamed geschrieben hat, tatsächlich überall geschieht, und nicht, weil er es geschildert hat.« Wer kritischen Köpfen wie Abdel-Samad oder Kelek oder Ates das Recht abspricht, ihre Position zu vertreten, sollte an diesen Vater denken.
Die Autorin ist Reporterin der Berliner Zeitung »Der Tagesspiegel«.