27. Januar

Zum Gedenken

Gedenken in Auschwitz Foto: imago/Eibner Europa

Die Endlösung war die »Endlösung der Judenfrage«. Es war keine Kriegshandlung. Die Endlösung war auch kein Verbrechen gegen die Menschheit, ebenso wenig wie es eine Menschenrechtsverletzung war. Es war ein an uns Juden begangenes Verbrechen. Auschwitz wurde vor 75 Jahren befreit, und nun ist die Zeit der großen Reden gekommen.

Überall wird es zum Schaulaufen des »Nie Wieder« kommen, aber nie wieder was genau? »Nie Wieder« mobilisiert, »Nie Wieder« moralisiert, »Nie Wieder« hat immer recht, denn wer will wieder Tyrannei, Völkermord, Faschismus, Heimatlosigkeit, Hunger, Dürre, Sintflut? Sollen wir uns der Illusion hingeben, dass das gemeinsame Gedenken an den Holocaust uns wirklich zu besseren Menschen machen kann? Und reden wir bei diesen Gedenkveranstaltungen von Menschen oder von Juden? Das ist eine der entscheidenden Fragen, denn Erinnerung ist für die Nachfahren der Opfer anders als für die Nachfahren der Täter.

gedächtnisrituale Jeder weiß, was bei solchen Veranstaltungen gesagt wird, was nicht gesagt wird, was gesagt und nicht gesagt werden darf. Und wer auch wo reden darf. Was ist wichtig für uns Juden, wenn wir Teil dieser Veranstaltungen sein sollen? Wie können wir als Juden bei diesen Gedächtnisritualen mitmachen? Denn freilich können wir nur als Juden an diesen Ritualen teilhaben. Das sind dann die Momente, in denen man mit deutschen Nichtjuden nichts mehr gemein hat. Die Welt der Nachfahren der Täter und die Welt der Nachfahren der Opfer sind völlig verschieden.

Auch für die Nachkommen der Überlebenden tut sich ein Abgrund auf.

Aber auch für die Nachkommen der Überlebenden tut sich ein Abgrund auf. Auch wir gedenken der Befreiung der Konzentrations- und Vernichtungslager. Das ist der Grund, warum wir überhaupt leben. Aber können wir überhaupt irgendein Band mit und zu denjenigen finden, die befreit wurden? Jeder, der mit Überlebenden aufwuchs, weiß, dass die eigene Welt mit derjenigen der Eltern und Großeltern nicht mehr zu verbinden ist. Es gibt keine Kontinuität, nur ein großes schwarzes Loch, in das wir als Kinder und auch Enkel der Überlebenden lediglich ganz vorsichtig blicken können.

Aber auch dieser Blick ist ein Blick ins Leere. Jeder, der mit Überlebenden aufwuchs, weiß das. Wir Juden wurden als Juden für den sicheren Tod ausersehen. Das ist eine nicht mehr zu tilgende Trennungslinie auch in der Erinnerung. Jeder Nachfahre von Überlebenden weiß, dass sein eigenes Leben nur dem Zufall geschuldet ist. Wir Juden machen zwar bei diesen Gedenkveranstaltungen mit, aber wir sollten uns keinen Illusionen hingeben, was die sogenannte Gemeinsamkeit dieser Veranstaltungen angeht.

Wir können nur als Juden an den Gedächtnisritualen teilnehmen.

Sicher, es gibt Berührungspunkte. Gerade in diesen sammeln sich auch die Grundlagen für ein transnationales Gedächtnis der Judenvernichtung in Europa. Sehr deutlich sichtbar wurde das 2005 beim Gedenken an den 60. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz am 27. Januar 1945.

globalisierung Der damalige UN-Generalsekretär Kofi Annan war sich der Globalisierung der Erinnerung durchaus bewusst: »Das Böse, das zum Tod von sechs Millionen Juden und anderen in den Lagern geführt hat, bedroht noch heute jeden von uns. Jede Generation muss wachsam sein, um sicherzugehen, dass sich solche Ereignisse nicht erneut abspielen«, so Annan in seiner Rede vor 15 Jahren zur Befreiung von Auschwitz. Auch hier ein »Nie Wieder« in universaler Form.

Für Juden aber war der Universalismus oft auch ein Albtraum. Belegen und zeigen lässt sich das sowohl in den christlich motivierten Judenverfolgungen als auch in den Forderungen der französischen Revolutionäre, den Juden als Nation nichts, aber als Individuen alle Rechte zu garantieren. Aber: Differenz ist nicht nur Würde, sondern vor allem auch Bürde.

Den Holocaust zu universalisieren, hieße, das einschneidende Ereignis der jüdischen Geschichte zu einem Bruch mit der Moderne werden zu lassen.

Den Holocaust zu universalisieren, hieße, das einschneidende Ereignis der jüdischen Geschichte zu einem Bruch mit der Moderne werden zu lassen. Wir sollten uns daher gerade bei Gedenkveranstaltungen nicht der Illusion eines gemeinsamen Dialogs hingeben. Diesen kann es gerade bei Gedenkveranstaltungen zwischen Juden und Deutschen nach 1945 nicht mehr geben.

universalismus Auf der anderen Seite sollten wir Juden es uns auch nicht zu einfach machen und in jeder Form eines expliziten Universalismus, komme er nun von Paulus, Voltaire oder Kofi Annan, einen versteckten Antisemitismus sehen. Es sind verschiedene Beschreibungen derselben Wirklichkeit. Gerade bei Gedenkveranstaltungen kommen diese verschiedenen Beschreibungen zum Tragen. Die Erinnerung an den Holocaust wird wohl in Zukunft kein Bollwerk mehr gegen Antisemitismus sein.

Erinnern wir uns also: Auschwitz wurde am 27. Januar 1945 von der Roten Armee befreit. Wichtiger an diesem Tag als das Holocaustdenkmal ist das Sowjetische Ehrenmal im Treptower Park in Berlin. Über 7000 Rotarmisten, die in der Schlacht um Berlin gefallen sind, liegen dort begraben. Diese Rotarmisten erinnern uns am 27. Januar an das Recht, in Würde zu sterben, ein Recht, das uns Juden in den Vernichtungslagern genommen wurde und das wir uns nach 1948 zurückerobert haben.

Der Autor ist Soziologieprofessor am Academic College of Tel Aviv-Yafo.

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