Zu Rosch Haschana beginnen unsere Hohen Feiertage. Es ist die Zeit, in der wir ganz besonders über uns selbst und das vergangene Jahr nachdenken. Die Tora lehrt uns aber auch, dass wir nicht nur für uns, sondern auch für unsere Welt und unsere Mitmenschen verantwortlich sind. Daher ist dieser Tag auch immer ein guter Anlass, über die jüdische Gemeinschaft in Deutschland nachzudenken.
zufriedenheit Wir dürfen sicherlich Freude über das neue blühende jüdische Leben hierzulande empfinden. Wir sind nicht nur quantitativ, sondern vor allem auch qualitativ gewachsen. Darauf können wir gemeinsam stolz sein. Allerdings darf aus Zufriedenheit keine Selbstzufriedenheit werden. Es gibt noch so viel zu tun, große Herausforderungen und wunderbare Chancen, die wir zusammen annehmen, angehen und nutzen wollen, um so eine noch stärkere, selbstbewusste und florierende jüdische Zukunft zu schaffen. Eine Zukunft, die schon längst begonnen hat.
Eine der zentralen Herausforderungen ist der anhaltende Ausbau jüdischer Infrastruktur. Die in diesem Bereich erzielten Fortschritte sind enorm. Die beiden Rabbinerseminare bereiten sich auf neue Ordinationen vor. Die Fachhochschule Erfurt bietet Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern jüdischer Gemeinden, Einrichtungen und Organisationen – getragen vom Zentralrat der Juden – in diesem Jahr erneut einen Studiengang für jüdische Sozialarbeit an.
kultur Stolz sind wir auch auf die neue jüdische Kultur, die sich hierzulande immer deutlicher entwickelt. Sie soll – und sie wird – ein Leuchtturm des neuen Judentums in Deutschland sein. Es tut sich also viel, aber es ist wie mit dem Schwimmen gegen den Strom: Wer sich ausruht, wird zurückgespült.
Zugleich müssen wir in die Zukunft blicken. Und das bedeutet: aktive, engagierte Jugendarbeit. Wenn wir nicht in die jüdische Bildung unserer Kinder und Enkelkinder, in die Förderung jüdischer Identität und in eine nachhaltige Verbindung zwischen den Gemeinden und der jungen Generation investieren – und zwar nicht nur Geld, sondern auch Liebe, Herzblut und Vertrauen –, wird unsere Zukunft nicht das werden, was wir uns so sehr erhoffen.
jugend Das haben wir beherzigt. Unsere jungen Leute sollen viel mehr Raum und Ermutigung für Engagement bekommen. Ein Signal dafür: Im November findet in Weimar die Ratstagung des Zentralrats gemeinsam mit dem Jugendkongress statt. Das ist ganz neu. Und ganz richtig: »Zentralrat goes Young Generation!«
In der modernen Mediengesellschaft kommt der Darstellung unserer Gemeinschaft und unserer Religion, Tradition und Kultur in der breiten Öffentlichkeit große Bedeutung zu. Und auch in dieser Hinsicht gilt: Es ist viel geleistet worden, es muss noch mehr geleistet werden. Als Präsident des Zentralrats werbe ich unablässig für die Verbreitung von Wissen über das Judentum und setze mich für jüdische Belange ein.
Das werde ich auch weiterhin mit all meiner Kraft tun. Doch jeder von uns hier ist ein Botschafter des Judentums, und zwar ganz gleich, welche jüdische Ausrichtung speziell vertreten wird. Ich würde mir daher wünschen, dass die jüdische Gemeinschaft als Ganzes in dieser Hinsicht noch selbstbewusster nach außen wirkt.
mahnen Es gilt darüber hinaus, unsere neue Positionierung öffentlich stärker zu vertreten. Wir sind inzwischen ein Stück vom »jüdischen Mahnwesen« abgerückt, das in früherer Zeit Proteste gegen antisemitische Auswüchse zum Hauptinhalt unserer Öffentlichkeitsarbeit machte. Aber niemand soll sich hier irren: Wo nötig, zeigen wir auch künftig kämpferisches, leidenschaftliches Engagement, wie wir es neulich erst mit Blick auf antisemitische und antiisraelische Tendenzen bei der Linken sehr offensiv bewiesen haben.
Im kommenden Jahr 5772 werden wir also natürlich weiterhin für das eintreten, was uns am Herzen liegt. Dazu gehört auch immer der Staat Israel, der gerade in der nächsten Zeit wieder in besonderem Maße auf unsere Hilfe und öffentliche Unterstützung angewiesen sein wird. Es geht wohlgemerkt nicht um konkrete Aspekte von aktueller israelischer Politik, die Menschen vor Ort und woanders immer kontrovers diskutieren mögen.
für israel Doch die internationale Politik setzt zunehmend auf einseitigen Druck gegenüber Israel, um dem Land Zugeständnisse ohne Gegenleistung abzuringen. Das ist eine offene Einladung an die Feinde, den Konflikt mit den »Zionisten« fortzusetzen. Auch in Deutschland verfechten viele Menschen die ungeheuerliche These, Jerusalem sei das Hindernis für einen Nahostfrieden. Dagegen werden wir unsere Stimme erheben und für einen fairen Umgang mit und mehr Verständnis für Israel werben. Denn wenn es um existenzielle Fragen geht, kann der jüdische Staat immer fest auf uns zählen. Für uns ist Israel stets Herzenssache und Teil unserer Identität. Das steht niemals zur Disposition.
Von ganzem Herzen wünsche ich allen: Schana towa u’metuka! Auf ein glückliches und friedvolles Neues Jahr!
Der Autor ist Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland.