Antisemitismus

Zuhören und helfen

Im April dieses Jahres machte diese Geschichte deutschlandweit und auch international Schlagzeilen: Ein jüdischer Junge wurde in Berlin-Friedenau von seinen Mitschülern antisemitisch beleidigt und sogar körperlich angegriffen. Nach mehreren Monaten, als sich die Vorfälle gehäuft hatten, reagierten die Eltern und nahmen den 14-Jährigen von der Schule.

Dies ist bei Weitem nicht der einzige Vorfall dieser Art. Alleine für das Jahr 2016 erfasste die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (RIAS) stadtweit 470 antisemitische Vorfälle. Darunter finden sich Angriffe, Beleidigungen, Bedrohungen oder Sachbeschädigungen, die in den vergangenen Jahren in Deutschland zugenommen haben. Die Dunkelziffer dürfte höher sein, nicht alle Fälle werden gemeldet oder registriert.

Nach Bekanntwerden des Falles aus Friedenau äußerte sich im April auch Berlins Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) dazu: Sie forderte Lehrer und Eltern auf, solche Vorkommnisse frühzeitig der Antidiskriminierungsstelle zu melden.

anzeige »Viele Betroffene antisemitischer Gewalt wenden sich aber nicht an entsprechende Stellen, schon gar nicht bringen sie etwas bei der Polizei zur Anzeige«, sagt Marina Chernivsky. »Stattdessen verhandeln sie ihre Antisemitismuserfahrungen im privaten Kreis unter Freunden oder in der Familie. Das ist zwar wichtig, aber eine professionelle Unterstützung kann das nicht ersetzen.«

Chernivsky hofft, dass sich das in Zukunft ändern wird. Sie hat Grund zu Optimismus, denn am Montag hat in Berlin das Kompetenzzentrum der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) eine neue Beratungsstelle für Betroffene von Diskriminierung und antisemitischer Gewalt eröffnet. Chernivsky leitet das Kompetenzzentrum. Die Beratungsstelle wird vom Bundesprogramm »Demokratie leben!« unterstützt.

Zwar bestehen bereits seit Längerem verschiedene Beratungsangebote für Betroffene rechter, rassistischer oder antisemitischer Gewalt, allerdings hat sich bisher keine Stelle ausschließlich auf letztere konzentriert. »Wir glauben, Betroffene damit ermutigen zu können, Fälle zu melden und Beratung in Anspruch zu nehmen«, begründet Chernivsky das besondere Konzept.

kompetenzzentrum Die neue Beratungsstelle ist an das Kompetenzzentrum für Prävention und Empowerment der ZWST angeschlossen. Es kann also auf Expertise zurückgreifen und aus Erfahrung schöpfen. Profitieren sollen davon auch die anderen Beratungsstellen. »Die leisten großartige Arbeit und haben Kompetenzen in Sachen Antisemitismus«, sagt Chernivsky, »aber oft weisen antisemitische Vorfälle Besonderheiten auf, die sich von anderen Fällen unterscheiden. Wir wollen das Beratungsnetzwerk unterstützen, seine Angebote im Hinblick auf Antisemitismus auszubauen.« Es sollen etwa Fortbildungen stattfinden, nicht bloß für Beratungsstellen, sondern auch in Schulen, wo unter Schülern Diskriminierung häufig anzutreffen ist.

Wie ist Antisemitismus zu erkennen, wie kann er vermieden werden, wie können Lehrer handeln? Diese Fragen stehen im Zentrum. Chernivsky spricht von »Säulen«, auf denen die Beratungsstelle steht. Neben einem Fortbildungsangebot sind dies Einzelfallberatungen, telefonische Sprechstunden und Gruppenberatungen, bei denen auch Familie und Freunde eingeladen werden. »Wir möchten auch das soziale Umfeld der Betroffenen ansprechen«, sagt sie. Sowohl die Einzelfallberatungen als auch die Gruppengespräche können auf Deutsch, Russisch und Hebräisch geführt werden. Im Übrigen können weiterhin jederzeit Vorfälle auch online bei der Informationsstelle Antisemitismus gemeldet werden.

wissen Bereits vor ihrer Eröffnung gingen bei der Beratungsstelle mehrere Anfragen ein. Über die Fälle kann Chernivsky im Einzelnen öffentlich nicht sprechen, aber einige davon schätzt sie als »schwerwiegend« ein. »Erfahrungen mit Antisemitismus sind graduell, der Umgang damit fällt unterschiedlich aus«, sagt sie. »Wir haben unsere Arbeit gerade erst aufgenommen und werden sehen, welche Maßnahmen wir noch ergreifen müssen.«

Chernivsky ist es wichtig, dass nicht nur ihre, sondern sämtliche Beratungsstellen in den jüdischen Gemeinden präsenter sind. Wenn Beratungsangebote oft nicht wahrgenommen werden, liege das auch daran, dass viele Gemeindemitglieder nichts von deren Existenz wissen. Ein anderer Grund sei, dass Betroffene erlebten Antisemitismus manchmal herunterspielen und selbst anfangen, die Relevanz ihrer eigenen Diskriminierung infrage zu stellen. Es sei dabei typisch, dass ihr Umfeld ihnen Solidarität, ja bereits Anerkennung verweigere. Während Diskriminierende zum Beispiel antisemitische Aussagen oft kleinreden, führt das bei den Betroffenen dazu, dass sie anfangen zu glauben, das alles sei schon nicht so schlimm.

Die Beratungsstelle erkennt aber an, dass eine Diskriminierung stattgefunden hat oder immer noch stattfindet, das Beratungsprogramm ist auch ein Ausdruck von Solidarität. Damit werden Ressourcen geboten, die das private oder auch gesellschaftliche Umfeld gelegentlich vermissen lassen. Die neue Beratungsstelle für Betroffene von Diskriminierung und antisemitischer Gewalt füllt auf mehrerlei Ebenen eine Leerstelle.

http://zwst-kompetenzzentrum.de/

Nachruf

Keine halben Sachen

Die langjährige Nahost-Korrespondentin der WELT, Christine Kensche, ist gestorben. Ein persönlicher Nachruf auf eine talentierte Reporterin und einen besonderen Menschen

von Silke Mülherr  10.01.2025

Meinung

Tiefpunkt für die Pressefreiheit

An der besetzten Alice Salomon Hochschule versuchte die Rektorin zusammen mit israelfeindlichen Aktivisten, die journalistische Berichterstattung zu verhindern

von Jörg Reichel  10.01.2025

Alice Salomon Hochschule

Nach Besetzung: Hochschulleitung soll Journalisten behindert haben

Die Deutsche Journalistinnen- und Journalisten-Union erhebt schwere Vorwürfe gegen die Leitung

 10.01.2025 Aktualisiert

Nachruf

Eine unabhängige Beobachterin mit Herzensbildung

WELT-Chefredakteur Jan Philipp Burgard nimmt Abschied von Israel-Korrespondentin Christine Kensche

von Jan Philipp Burgard  10.01.2025

Interview im "Playboy"

Marcel Reif: Antiisraelische Hetze bei Demos ist Judenhass

»Ich hätte mir gewünscht, dass der Rechtsstaat viel schneller und viel härter eingreift«, sagt der Sportkommentator

 10.01.2025

USA

Kreuzritter 2.0? - Ein designierter US-Verteidigungsminister mit Kreuz(zug)-Tattoo

Pete Hegseth steht wegen seiner Tätowierungen in der Kritik. Angeblich symbolisieren sie eine Kreuzzugsideologie. Was hinter Jerusalemkreuz und Co. steckt

von Andrea Krogmann  10.01.2025

USA

Los Angeles: Auch jüdische Stars verlieren Häuser

Dazu gehören Adam Brody und Steve Guttenberg, der den Behörden half, Bewohner zu evakuieren

 10.01.2025

Washington D.C.

Wegen Haftbefehl gegen Netanjahu: US-Repräsentantenhaus beschließt Sanktionen gegen IStGH

Nun muss der Senat den Gesetzentwurf bestätigen. Auch dort haben die Republikaner eine Mehrheit

von Imanuel Marcus  10.01.2025

Meinung

Hitler ein Linker? Der »Vogelschiss«-Moment der Alice Weidel

Mir ihren Aussagen zu Adolf Hitler im Gespräch mit Elon Musk hat die AfD-Chefin erneut ihre Inkompetenz bewiesen

von Michael Thaidigsmann  10.01.2025