Der Fall hatte international Schlagzeilen gemacht: Mitten in Berlin, in der Nähe vom Bahnhof Zoologischer Garten, waren im Juni 2018 ein jüdischer Jugendlicher und seine beiden nichtjüdischen Freunde beleidigt, bedroht und angegriffen worden. Einer der Attackierten hatte dabei Schnittwunden durch eine abgebrochene Flasche erlitten, die behandelt werden mussten, einen anderen Jugendlichen versuchten die Täter, ins Gleisbett zu werfen.
Die drei Angreifer, eigenem Bekunden nach Palästinenser, hatten sich daran gestört, dass aus den tragbaren Boxen des jungen Juden der Song »Tel Aviv« von Omer Adam zu hören gewesen war. »Wenn ich ein Messer dabei hätte, würde ich euch Juden die Kehle durchschneiden!«, rief einer.
BEWÄHRUNG Nun sind zwei der Täter verurteilt worden, der dritte hatte sich mutmaßlich aus Deutschland abgesetzt, es läuft ein Aufenthaltsermittlungsverfahren. Der heute 15-jährige Vassili S. wurde unter Einbeziehung eines früheren Urteils zu 14 Monaten auf Bewährung verurteilt. Der heute 18 Jahre alte Karim H. muss zwei Wochen lang in Dauerarrest und 60 Stunden Freizeitarbeit leisten.
Juristen äußern sich zu Urteilen meist erst dann, wenn sie diese Begründung für ein Urteil kennen.
Ist das Urteil gegen die beiden Täter zu lasch, vor allem im Hinblick darauf, dass Politiker in den letzten Monaten immer wieder betonten, Antisemitismus rigoros bekämpfen zu wollen?
Dirk Behrendt (Grüne), Justizsenator von Berlin, wollte sich auf Anfrage der Jüdischen Allgemeinen nicht dazu äußern, betonte allerdings, dass er nie zu Urteilen Stellung nehme. Dass Justizminister oder -senatoren keine aktuellen Gerichtsurteile kommentieren, ist nicht ungewöhnlich.
Künast Zum viel diskutierten Urteil, wonach Renate Künast ungestraft mit übelsten Beschimpfungen belegt werden darf, hatten beispielsweise zwar auch Politiker ihre Meinung gesagt, aber eben niemand, der als Minister oder Senator Dienstherr von Richtern ist. Richter sind nämlich, so steht es im Grundgesetz, »unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen«, überdies sieht die Gewaltenteilung eine strikte Trennung von Judikative und Exekutive vor.
Die schriftliche Urteilsbegründung liegt noch nicht vor, es ist aber die durch den Richter erstellte finale Form der mündlichen Begründung. Juristen äußern sich zu Urteilen meist erst dann, wenn sie diese Begründung für ein Urteil kennen.
JUGENDLICHE In ersten Berichten hatte es im Juni 2018 geheißen, die Angreifer seien Erwachsene gewesen. Dies war nicht der Fall: Die beiden Angeklagten waren zur Tatzeit 14 und 17 Jahre alt, mithin also noch nicht volljährig, betont Claudia Vanoni, Oberstaatsanwältin und Antisemitismusbeauftragte der Generalstaatsanwaltschaft Berlin, gegenüber der Jüdischen Allgemeinen. Die Anwendung des Jugendstrafrechts sei daher »zwingend« gewesen. Weitere Aussagen zum Urteil könne sie allerdings nicht treffen, da eben noch keine schriftliche Urteilsbegründung vorliege, sagt Vanoni.
Allgemein sei es aber so, dass »das Jugendstrafrecht vom Erziehungsgedanken geleitet« werde. In dessen Rahmen sei es zum Beispiel möglich, dass ein jugendlicher Angeklagter zum Besuch einer Gedenkstätte verpflichtet wird. »Diese Entscheidung trifft das Gericht, nachdem es sich einen persönlichen Eindruck von dem Angeklagten in der Hauptverhandlung verschafft und hierbei auch die Empfehlung der in der Hauptverhandlung anwesenden Jugendgerichtshilfe berücksichtigt hat«, so Vanoni.
Sigmount Königsberg von der Jüdischen Gemeinde zu Berlin wünscht sich einen pädagogischen Ansatz.
Das erste deutsche Jugendgerichtsgesetz war im Jahr 1923 verabschiedet worden. Während des Nationalsozialismus wurde es in mehreren Schritten verschärft, 1939 wurden Jugendliche ab dem 16. Lebensjahr Erwachsenen gleichgestellt, ab 1943 konnten auch 14-Jährige nach Erwachsenenstrafrecht verurteilt werden. 1953 trat ein neues Jugendgerichtsgesetz in Kraft.
Prozess Auch Sigmount Königsberg, Antisemitismusbeauftragter der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, möchte sich ohne schriftliche Urteilsbegründung nicht zum Ausgang des Prozesses äußern. Er betont allerdings, dass das Jugendstrafrecht und der damit verbundene erzieherische Ansatz eine wichtige Errungenschaft sei.
Für Jugendliche, die antisemitisch motivierte Straftaten begehen, wünscht er sich »als pädagogischen Ansatz Maßnahmen, die ihnen dabei helfen können, die eigenen Positionen infrage zu stellen und die eigenen Vorurteile zu reflektieren«. Das sei sicher »einfacher gesagt als getan, aber wir haben hier in der Stadt ja einige Träger, die entsprechende Angebote im Programm haben«, sagt Königsberg.
Wie aber wäre das Gerichtsverfahren ausgegangen, wenn die beiden Angeklagten im Juni 2018 Erwachsene gewesen wären? Claudia Vanoni erklärt: »Bei einer mit einem oder mehreren Beteiligten gemeinschaftlich begangenen Körperverletzung sieht das Strafgesetzbuch für den erwachsenen Straftäter grundsätzlich einen Strafrahmen von sechs Monaten bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe vor. Innerhalb dieses Strafrahmens hat das Gericht eine der Schuld des Täters angemessene Strafe zu finden.«
STRAFVERSCHÄRFUNG Stelle das Gericht aber fest, dass eine Tat antisemitisch motiviert gewesen sei, »ist dieser Umstand strafverschärfend zu werten«. Konkret lasse sich aber keine genaue Aussage darüber treffen, wie die Strafen für Erwachsene ausgefallen wären, da noch weitere Gesichtspunkte maßgeblich seien – »wie etwaige Vorstrafen und das Verhalten nach der Tat und in der Hauptverhandlung«.
Gegen den Richterspruch, der den zur Tatzeit 17-Jährigen zu zweiwöchigem Dauerarrest und 60 Stunden Freizeitarbeit verurteilte, hat die Staatsanwaltschaft übrigens Berufung eingelegt. Sie hatte für ihn eine Jugendstrafe beantragt.