Noch gibt es das Mittelmeer. Aber Erich Mendelsohn und Herman Sörgel sind ja auch schon tot. Mendelsohn, der berühmte Architekt und Erbauer des Mossehauses in Berlin, war fasziniert von Sörgels Projekt »Atlantropa«.
Wie der überzeugte Zionist Mendelsohn seine Begeisterung begründete, klingt in diesen Tagen, in denen Tausende Flüchtlinge versuchen, das Meer zwischen Europa und Afrika zu überwinden, wieder sehr aktuell. »Wir müssen zu planvollem Austausch kommen«, sagte Mendelsohn in einem Vortrag 1932 über die Armuts- und Reichtumsverteilung in der Welt. »Von Nahrung und Können, von Produktion und Ingenium.«
Palästina Sörgel und Mendelsohn waren seit 1925 befreundet. Für Mendelsohn war »Atlantropa« ein Projekt, »das Europas eigentliches Fruchtland, das Mittelmeerbecken, durch Senkung der einst überschwemmten Gebiete mithilfe des Gibraltardammes wieder herstellen will«. Absenkung des Wasserspiegels im Mittelmeer, Gewinnung von bewirtschaftbaren Böden und ein Landweg von Afrika nach Europa – darum ging es dem deutschen Architekten Herman Sörgel. Und dafür begeisterten sich Erich Mendelsohn und einige andere jüdische Architekten und Ingenieure, die mit dem Zionismus auch plötzlich eine politische Möglichkeit sahen, humanistische Projekte voranzutreiben.
Erich Mendelsohn sah in Sörgels Ideen eine »Vorstufe« für die Rückkehr der Juden nach Palästina. Mit Sörgel, der kein Jude war und der sich als »Weltarchitekt« verstand, arbeitete Mendelsohn eng zusammen. Er war mehr oder weniger offiziell dessen Palästinabeauftragter. »Vielleicht war Mendelsohn aber auch nur verschnupft, weil die Jewish Agency ihm keinen vergleichbaren Posten angeboten hatte«, sagt heute der Architekturhistoriker Wolfgang Voigt, der intensiv zu »Atlantropa« geforscht hat.
Staudammprojekt Zunächst einmal ist – besser: war – »Atlantropa« ein gigantisches Staudammprojekt. Mit ihm sollte das durch die Straße von Gibraltar ins Mittelmeer einfließende Atlantikwasser gestaut werden. Dann wäre der Atlantik quasi der Speichersee, das Mittelmeer zum Verdunstungsbecken geworden, und unglaubliche Mengen an Energie hätten auf diese Weise produziert werden können. Ein weiterer Damm zwischen Italien und Tunesien hätte Afrika und Europa miteinander verbunden. So wäre es gelungen, Afrika bis hinunter zum Kongobecken fruchtbar zu machen, gleichzeitig wäre durch die Verdunstung auf dem Grund des bisherigen Mittelmeeres fruchtbares Land gewonnen worden.
Vermutlich klingt das größenwahnsinniger, als es in Wirklichkeit war. Zum einen ging die Besiedlung des Mittelmeerraumes, wie der Historiker Fernand Braudel gezeigt hat, schon immer mit Trockenlegung von Sumpfgebieten einher: »Man braucht nur den Lauf der Jahrhunderte zurückzuverfolgen, um sich zu vergewissern, dass jede mediterrane Ebene ursprünglich unter Wasser stand.«
Zudem verweisen Architekturhistoriker auf aktuelle Staudammprojekte in Asien, etwa in China oder Tadschikistan, die heute immerhin fast die Hälfte der von Sörgel für sein Gibraltarprojekt berechneten Strommengen erzeugen. Schließlich, so Wolfgang Voigt in seinem Buch Atlantropa. Weltbauen am Mittelmeer. Ein Architektentraum der Moderne, könnte man sich heute kaum noch vorstellen, »welche Anziehungskraft die Aussicht auf einen Gewinn an kultivierbarem Land noch vor einem halben Jahrhundert hatte«.
klimaveränderung Angezogen davon war auch der Frankfurter Nationalökonom und überzeugte Zionist Franz Oppenheimer, der »Atlantropa« massiv unterstützte. In seinem Roman Sprung über ein Jahrhundert von 1931 beschreibt er einen Zusammenhang von der Absenkung des Mittelmeers und der Verhinderung von Kriegen.
Seine Ambivalenz gegenüber Sörgels Plänen bekannte hingegen der jüdische Architekt Julius Posener. »Auch ich hielt es für möglich und dachte nicht an die Klimaveränderung. Ich erinnere mich, dass der Gedanke mir genial erschien – und dass er mir unheimlich war«, heißt es in einem Schreiben Poseners aus dem Jahr 1993 an Voigt.
Die »New York Times« nannte Sörgels Ideen schon 1928 eine »Teutonic Phantasy«. Aber, so Voigt, »Sörgel hatte das damals noch kaum beschädigte Vertrauen in die Technik auf seiner Seite«. Zudem sei das, was Sörgel das »größte gemeinsame soziale Unternehmen moderner Staaten« nannte, im Zeichen der Weltwirtschaftskrise vielen Menschen attraktiv erschienen. »Es war ja auch ein Friedensprojekt«, sagt Voigt.
volk ohne raum Sörgels Idee bot Anknüpfungspunkte für verschiedene, sich völlig widersprechende politische Konzepte: Da war, erstens, die »Volk ohne Raum«-Ideologie der Nazis, zu der auch eine Besiedlung und Fruchtbarmachung des neu gewonnenen Landes südlich von Italien gepasst hätte.
In Sörgels Nachlass findet sich der Entwurf für ein Plakat, das einerseits einen europäischen Badesee voller Menschen, andererseits eine karge afrikanische Bodenlandschaft zeigt; sein Textentwurf: »Volk ohne Raum« und »Raum ohne Volk«. Das Wort »Raum« hatte Sörgel jeweils durchgestrichen und durch »Land« ersetzt. Auch der Historiker Voigt beharrt auf dem Unterschied: »Was die Nazis im Osten machten, war zerstörerisch, was Sörgel im Mittelmeer und Afrika plante, war aufbauend.«
»Atlantropa« passte, zweitens, auch zu den alten Kolonialträumen einer leichten Landnahme Afrikas bis zu Zentralafrika, wo Sörgel einen »Kongosee« anlegen wollte: Der sollte für Abkühlung der Luft sorgen und so die in Afrika herrschenden Temperaturen für Europäer erträglicher machen. Etwa zwei Millionen Afrikaner wären dann einfach umgesiedelt worden.
Aber Sörgels Ideen waren, drittens, auch kompatibel mit Ideen, wie man den Reichtum der Welt gerechter verteilen, das Wohlstandsgefälle zwischen Europa und Afrika verringern und künftige Kriege um Rohstoffe verhindern könnte.
Kraftwerke Und es gab bei »Atlantropa«, viertens, auch Anknüpfungspunkte zum Zionismus, der Sörgels Grundannahme, dass die Technologie des 20. Jahrhunderts die Chance bietet, scheinbar unwirtliche Flächen bewirtschaften zu können, später in die Tat umsetzen sollte. Sogar konkrete Verbindungen von Zionismus und »Atlantropa« gab es: Ein Kanal- und Kraftwerksprojekt, bei dem das Gefälle vom Wasserspiegel des Mittelmeers zu dem des Toten Meeres genutzt werden sollte, hätte auch nach der Absenkung des Mittelmeers noch zur Abschöpfung hoher Energiemengen getaugt.
1932 war Sörgel mit seinem Buch Atlantropa und einer Ausstellung in die große Öffentlichkeit getreten, 1933 kamen die Nazis an die Macht. Immer wieder diente Sörgel, dessen Frau von den Nazis als »Halbjüdin« geführt wurde, ihnen sein Projekt an. Allerdings blieb er auf allen Ebenen erfolglos, wie der Briefwechsel, den man im Archiv des Deutschen Museums in München einsehen kann, zeigt. 1937 teilte ihm der »Reichskommissar für die Internationale Ausstellung 1937«, also die Weltausstellung in Paris, mit, dass »zu meinem Bedauern keine Möglichkeit besteht, Ihr Atlantropaprojekt zu zeigen«.
1939 erfuhr er von der NSDAP-Reichsleitung, dass »Atlantropa« deswegen nicht gefördert werde, weil es schon zu oft »als eine Angelegenheit internationaler Friedensfreunde behandelt wurde«, mithin »einseitig politisch gebunden« sei. Allerdings legte der bei der NSDAP für solche Fragen zuständige Abteilungsleiter Bernhard Köhler in einem nur wenige Tage später verschickten privaten Schreiben nahe, Sörgel solle doch besser bei Wirtschaftsexperten für sein Projekt werben – »nicht aber unter den Politikern«.
Absagen Doch auch bei den NS-Wirtschaftsexperten und -Wissenschaftlern holte sich Sörgel nur Absagen. Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften lehnte 1941 eine Förderung seiner Arbeiten ab – »aufgrund Ihrer Arbeitsrichtung«. Trotzig notierte Sörgel auf dem Schreiben mit der Hand: »Der Kongo wäre im Interesse Deutschlands.«
Als er 1943 einen Aufsatz in der vergleichsweise unbedeutenden Sammlung zur Heimatforschung, »Heimatdienst Allgäu«, unterbringen wollte, beschied ihm die Redaktion, seine Manuskripte müssten diese vorgegebenen Punkte enthalten: »1. Der Kampf gegen das Judentum, 2. Die deutschen Leistungen in der Welt, 3. Die Leistungssteigerung, 4. Die Gewissheit des Endsiegs«. Das aber, schrieben die NS-Redakteure, dürfte bei Sörgel »wohl etwas schwer sein«.
Sörgel, der sich selbst doch immer den Nazis andienen wollte, wurde gleichwohl mehrmals von der Gestapo zum Verhör vorgeladen. In den Akten finden sich Hinweise auf eine Hausdurchsuchung 1939 und ein Verhör, in dessen Folge 1943 ein Publikationsverbot ausgesprochen wurde. Warum die NS-Führung seine Idee nicht mit ihrer Afrikapolitik verbinden wollte, verstand Sörgel nie. Das sei doch »ein Argument gegen eine eventuelle erneute Kriegsschuldlüge«, sie zeige doch den »Friedenswillen Deutschlands«, notiert er auf einem maschinengeschriebenen Zettel ohne Datum.
Nach 1945 versuchte Sörgel weiterhin, seine Idee zu verwirklichen: Nachdem seine letzte Publikation, Atlantropa, zuletzt 1932 in Zürich und München erschienen war, veröffentlichte er nun gleich mehrere Bücher, um für sein Mittelmeerprojekt zu werben – unter anderem 1950 das populär gehaltene Atlantropa ABC.
israel Der Visionär, der sich noch lange nicht als gescheitert sah, bekannte auch sein Interesse am jungen Staat Israel. 1948 erinnerte er an eine Idee, die er schon 1932 den zionistischen Planern in Palästina nahegelegt hatte: Um den zu erwartenden Konflikt zwischen jüdischen Einwanderern und arabischen Bewohnern zu entschärfen, schlug Sörgel vor, die jüdische Einwanderung auf einen zehn bis 35 Kilometer breiten Streifen des durch die Absenkung des Mittelmeeres gewonnenen Neulandes zu begrenzen. Das würde, heißt es in Sörgels Buch Atlantropa. Wesenszüge eines Projekts von 1948, »Palästina derart erweitern, dass die Schaffung eines jüdischen Nationalheimes ohne Beeinträchtigung des von den Arabern beanspruchten Landes möglich wäre«.
Aus dem jungen Israel ist allerdings keine Antwort auf Sörgels Vorschlag bekannt. »Das war wohl ein freischwebender Gedanke«, sagt Wolfgang Voigt. Auch, dass Sörgel erneut eine Zusammenarbeit etwa mit Erich Mendelsohn, der zunächst nach Palästina, 1941 aber aus Angst vor Rommels Afrikakorps in die USA geflüchtet war, anstrebte, ist nicht belegt.
Herman Sörgel starb 1952. Mit ihm verschwand auch das Thema »Atlantropa« aus der öffentlichen Diskussion. Was eine, vielleicht nur teilweise, Realisierung bedeutet hätte, lässt sich kaum ermessen. Schon gar nicht, wie es sich auf die Migrationsströme zwischen Afrika, dem Nahen Osten und Europa ausgewirkt hätte. »In gewisser Weise ist das Mittelmeer zum Kulturbesitz aller Menschen geworden«, heißt es im Buch Das Mittelmeer von David Abulafia. Das Mittelmeer sei, schreibt der englische Historiker, immer schon – und im 20. und 21. Jahrhundert erst recht – attraktiv für viele Migrantengruppen gewesen.
Das wäre es wohl auch dann noch, wenn Herman Sörgel und Erich Mendelsohn es zu Teilen hätten austrocknen lassen.