Es ist 2.20 Uhr am Freitagmorgen. Trotz der vorgerückten Stunde und der Tatsache, dass die 236. Sitzung bereits 17 Stunden andauert, ist das Plenum des Bundestags noch vergleichsweise gut gefüllt, als Vizepräsidentin Dagmar Ziegler den Tagesordnungspunkt »Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts« aufruft. Nur ein Abgeordneter, Gottfried Curio von der AfD, meldet sich zu Wort.
Der AfD-Politiker wettert gegen eine angebliche Aufweichung der Kriterien für den Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft. Die übrigen Redner geben ihre Reden zu Protokoll. Am Ende wird die Novelle mit den Stimmen aller Fraktionen angenommen, nur die AfD enthält sich.
Wenn auch der Bundesrat zustimmt, wird es künftig einen Rechtsanspruch geben auf die sogenannte »Wiedergutmachungs«-Einbürgerung. Dies betrifft Personen, die von nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen betroffen waren, bislang aber keinen Anspruch auf Wiedererwerb der deutschen Staatsangehörigkeit nach Artikel 116 Grundgesetz haben, weil sie von den Nationalsozialisten nicht formell ausgebürgert wurden - unter anderem wegen vorheriger Flucht. Der Anspruch auf Einbürgerung besteht auch für alle Abkömmlinge sowie vor dem 1. Januar 1977 angenommene Adoptivkinder.
RECHTSANSPRUCH In der Praxis werden diese Personen – unter denen sich zahlreiche Nachkommen jüdischer NS-Opfer befinden – bereits seit 2019 auf Antrag in Deutschland eingebürgert. Der Bundestag wollte aber ausdrücklich einen Rechtsanspruch auf Einbürgerung schaffen – auch der Symbolik wegen.
Außerdem betroffen sind Kinder verfolgter jüdischer Frauen, sofern diese durch die Heirat mit einem nicht-deutschen Mann ihren deutschen Pass verloren hatten. Mit dem neuen Gesetz wird zudem geregelt, dass Ansprüche auf die sogenannte »Wiedergutmachungs«-Einbürgerung auch künftig keiner Befristung unterliegen. Bislang galt ein sogenannter Generationenschnitt für Kinder, deren Eltern nach dem 31. Dezember 1999 im Ausland geboren wurden und dort leben.
Die Antragsteller müssen nachweisen, dass ihre Vorfahren im »Dritten Reich« verfolgt wurden oder Angehörige verfolgter Minderheiten waren. Im August 2019 hatte das für das Staatsangehörigkeitsrecht zuständige Bundesinnenministerium per Erlass die Einbürgerung für Nachfahren von Verfolgten der NS-Zeit erleichtert, die bis dato keinen Anspruch nach dem Grundgesetz hatten. Zuvor war die erleichterte Einbürgerung nur nach Ermessen der Behörden möglich.
HINDERUNGSGRUND Die Novelle des Staatsangehörigkeitsgesetzes war seit Längerem geplant und sollte eigentlich schon vor zwei Wochen abschließend beraten werden. Kurzfristig wurde der Punkt dann aber von der Tagesordnung genommen. Der Grund: Der CDU-Innenpolitiker Mathias Middelberg hatte überraschend den Vorschlag gemacht, das Staatsangehörigkeitsgesetz in einem weiteren Punkt zu ändern, um die Einbürgerung von antisemitisch eingestellten Menschen zu verhindern.
Nach Verhandlungen mit der SPD einigte man sich vergangene Woche auf einen Kompromiss in dieser Frage. Nach dem Willen des Bundestags soll künftig nicht mehr Deutscher werden können, wer rechtskräftig wegen einer antisemitischen, fremdenfeindlichen oder rassistischen Straftat verurteilt wurde – unabhängig von der Höhe der Strafe.
Sogenannte Bagatelldelikte mit einer Freiheitsstrafe unter drei Monaten oder weniger als 90 Tagessätzen Geldstrafe müssen künftig bei der Einbürgerung berücksichtigt werden. Derartige menschenfeindliche Straftaten seien niemals eine Bagatelle, sagte Middelberg. Zudem sieht der Beschluss vor, den Fragenkatalog des Einbürgerungstests mit Blick auf mögliche antisemitische Einstellungen zu überarbeiten.
REAKTION Der Zentralrat der Juden in Deutschland begrüßte die Änderungen des Staatsangehörigkeitsgesetzes. »Die Regierungskoalition hat wichtige rechtliche Schritte unternommen, damit Deutschland seiner historischen Verantwortung gerecht wird«, sagte Zentralratspräsident Josef Schuster. Die Erleichterungen für NS-Verfolgte und ihre Nachkommen seien überfällig, aber sehr zu begrüßen, so Schuster weiter.
Auch die Verschärfung der Einbürgerungsregeln bei antisemitischen Delikten lobte er. Mit diesem Schritt übernehme Deutschland »die Verantwortung, dass Juden sicher in diesem Land leben können.« Das sei ein wichtiges Signal. »Wer gegen den Geist des Grundgesetzes handelt und sich strafbar macht, sollte nicht das Privileg der deutschen Staatsangehörigkeit erhalten«, erklärte der Zentralratspräsident.
Es sei aber darüber hinaus »unabdingbar, sowohl in den Schulen als auch in den Orientierungskursen die deutsche Verantwortung gegenüber Israel, die NS-Vergangenheit und die Schoa sowie Antisemitismus als Themen zu vermitteln. Darüber hinaus müssen die politische Bildung und Aufklärung generell verstärkt werden, um antidemokratische Tendenzen zurückzudrängen.«
FLAGGENVERBOT Ebenfalls zu einem effektiveren Vorgehen gegen Extremismus und Antisemitismus beitragen soll aus Sicht der Großen Koalition eine weitere Änderung: Das Verbreiten von Propagandamitteln und das Verwenden von Fahnen von Organisationen, die auf der EU-Terrorsanktionsliste stehen, wird künftig unter Strafe stehen. Auslöser waren Hamas-Flaggen bei antiisraelischen Demonstrationen im Mai.
Und noch eine Änderung beschloss der Bundestag in seiner voraussichtlich letzten Sitzungswoche vor der Sommerpause und den Neuwahlen im September: Die Verbreitung sogenannter »Feindeslisten« mit den persönlichen Daten von Menschen wird künftig ebenfalls unter Strafe stehen.
»Damit gehen wir entschieden gegen ein Klima der Angst und der Einschüchterung vor, das von Hetzern geschürt wird«, sagte Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD). Sie erinnerte daran, dass der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke auf einer solchen Liste gestanden hatte, bevor er von einem Rechtsextremisten ermordet wurde.
Neu aufgenommen ins Strafgesetzbuch wurde auch der Straftatbestand der »verhetzenden Beleidigung«. Das betrifft Hassbotschaften, welche direkt an Gruppen oder Betroffene wie Juden oder Muslime geschickt werden. Da sie nicht öffentlich geäußert werden, konnten sie bislang meist nicht als Volksverhetzung geahndet werden. (mth/kna)