Der 7. Oktober war kein Terroranschlag. Er war der Beginn eines neuen globalen antisemitischen Krieges, in dem alle Jüdinnen und Juden sich angegriffen fühlen, weil sie alle angegriffen werden. Dieser Krieg wird an Universitäten, Kultureinrichtungen, auf der Straße, im Sport, überall und mit allen Mitteln geführt. Desinformation, Framing, Halbwahrheiten, Falschmeldungen und Auslassungen gehören dazu – und seit dem 14. April auch Drohnen, Marschflugkörper und Raketen aus dem Iran.
Der Angriff kann und wird hoffentlich als Zeitenwende in die Geschichte des Nahen Ostens eingehen. Dass neben den USA und Großbritannien auch Jordanien, Ägypten und selbst Saudi-Arabien sich militärisch an der Verteidigung Israels beteiligt haben, lässt Hoffnung auf eine neue starke Anti-Terrorallianz aufkommen. Jetzt spätestens muss auch Deutschland seine Iran-Politik ändern. Kein Appeasement mehr. Was wäre, wenn der Iran bereits Atommacht wäre?
Es ist skandalös, dass die EU die iranischen Revolutionsgarden noch nicht als Terrororganisation listet und die Terroristen des »Schwarzen Schabbat« bis heute nicht auf internationalen Fahndungslisten stehen. Ihre Sympathisanten sitzen in vielen Regierungen, sie erheben ihre Stimmen in den UN, sie geben den Ton in Kultur, Wissenschaft und millionenfach im Netz an.
Wie viele Tote, wie viele Verletzte, wie viele Vertriebene auf welcher Seite?
Am 7. Oktober 2023 hat ein Krieg begonnen, der längst nicht mehr allein auf dem Schlachtfeld in Israel und Gaza geführt wird. Von dort erreichen uns Bilder des Grauens, von Menschen, die ihr Zuhause verloren haben, die um ihre Liebsten trauern, von Verletzten und Toten. Wie viele Tote, wie viele Verletzte, wie viele Vertriebene auf welcher Seite?
In Israel wurden mehr als 250.000 Menschen evakuiert. Täglich veröffentlicht die israelische Armee die Namen getöteter und verletzter Soldaten. In israelsolidarischen Foren teilen wir Informationen und Artikel über Terroranschläge. Wir zählen die Tage und bangen um die Menschen, die in den Tunnels oder in Gefangenschaft palästinensischer Haushalte ihren Folterern ausgeliefert sind.
Nach 191 grausamen Tagen hat die Hamas erneut ein Abkommen abgelehnt und der Iran Israel direkt angegriffen Das Leid der Geiseln findet nur noch wenig medialen Niederschlag. Das Mitleid scheint aufgebraucht. Die Schlagzeilen werden dominiert vom Leiden der palästinensischen Seite. So viel mehr Zerstörung, so viel mehr Tote.
Die Opferarithmetik setzt Israel automatisch ins Unrecht
Die Opferarithmetik setzt Israel automatisch ins Unrecht. Terrortote gegen Kriegstote. Als ob irgendetwas, was vor oder nach dem 7. Oktober geschehen ist, die Barbarei auch nur im Geringsten begründen könnte. Die Überschrift dieser makabren Gleichung, die das israelische Leid unerträglich relativiert, lautet »Aber«. Aus dem großen Reservoir der »Aber-Sager« rekrutiert die Hamas mediale, gesellschaftliche und politische Unterstützung.
Das moralische Entsetzen gilt nicht der menschenverachtenden Kriegsführung, die den Tod der eigenen Bevölkerung als Kriegswaffe einsetzt, sondern unisono dem militärischen Vorgehen Israels. Nach kürzester Schamfrist, in der pflichtschuldigst das selbstverständliche Recht eines jeden Staates, sich gegen die Ermordung seiner Bürger zu wehren, auch Israel zugebilligt wurde, hagelte es Warnungen, Verurteilungen und Belehrungen.
Das theoretische Recht beinhaltete offenbar nicht das Recht zur praktischen Umsetzung desselben. Niemand nämlich weiß bis heute eine Antwort auf die Frage, wie Israel die militärische Fähigkeit der Hamas grundlegend so reduzieren kann, dass eine Wiederholung des 7. Oktober ausgeschlossen ist, ohne zugleich den Tod vieler Unschuldiger in Kauf zu nehmen. Uns alle, die wir um Israels physische Existenz, um seine Seele bangen, um das politische, das moralische Überleben des jüdischen Staates, uns dagegen zerreißt diese Frage.
Mit jedem Tag nämlich wird deutlicher, dass es sich um ein unlösbares Dilemma handelt. Es bedarf deshalb schon einer gehörigen Portion Dreistigkeit, den tödlichen Angriff auf den Konvoi der Hilfsorganisation »World Central Kitchen« nicht für einen tragischen Fall von »Friendly Fire«, sondern für Vorsatz, zumindest aber für einen Anlass für überhebliche Ermahnungen zu halten.
Und was, wenn der Iran bereits Atommacht wäre?
»Keine Ausreden mehr«, giftet die deutsche Außenministerin, ganz so, als ob Israel, dieser ungezogene und undankbare Balg, ihr persönlich Rechenschaft schuldig sei. »Sicher, der 7. Oktober war ein furchtbarer Tag, aber nun ist bitte Schluss mit Vergeltung. Vertragt euch wieder!« Wie vermessen, wie daneben. Über sechs Monate Krieg, und noch immer sind die wichtigsten Lehren nicht verstanden worden.
Die erste lautet, dass der Schwarze Schabbat eben kein singuläres Ereignis und nicht der Überfall einer kleinen radikalen Gruppe war. Aus den Aussagen gefangen genommener Hamas-Kämpfer, dem Fund geheimer Dokumente und der geheimdienstlichen Auswertung ergibt sich ein Bild, das so nihilistisch ist, so radikal und monströs, wie es sich kaum jemand hat vorstellen können, was übrigens ein Teil der Erklärung für das Versagen des Geheimdienstes ist.
Wer nach dem 7. Oktober noch immer daran festhalten will, dass es mit dieser palästinensischen Führung eine Zweistaatenlösung geben kann, wer Israel allen Ernstes zumuten will, einen Nachbarn zu haben, der sich nach der Staatsgründung eiligst ans Werk machen wird, eine Armee aufzubauen, um beim nächsten Versuch erfolgreich zu sein, der verschließt entweder Augen, Herz und Verstand, oder er lügt und will in Wahrheit selbst die Existenz Israels beenden.
Das Ziel bleibt, aber der Weg dahin ist länger geworden
Das nämlich ist Lehre Nummer zwei: Es gibt keine Abkürzung auf dem Weg zu einer friedlichen Nachbarschaft. Im Gegenteil. Das Ziel bleibt, aber der Weg dahin ist länger geworden. Das schlimmste Pogrom nach der Schoa hat eine so tiefe Retraumatisierung ausgelöst, dass allen voran der Hamas klar war, wie militärisch entschieden Israel antworten und welches Leid damit für die Bevölkerung in Gaza verbunden sein würde.
Noch herrscht Krieg, und noch bestimmt nur das eigene Leid das Denken und Handeln. Im Krieg gilt die Regel: Erst das Überleben, dann die Moral. Der Sieg über den Hass aber erfordert Versöhnung und Empathie. Ohne ein faires Nebeneinander, aus dem irgendwann vielleicht sogar ein Miteinander werden kann, wird es keine Sicherheit geben, nicht für Israelis und nicht für Palästinenser. Das ist Lehre Nummer drei, für deren Umsetzung es auf beiden Seiten neue, demokratisch legitimierte Regierungen geben muss.
Und es braucht dafür, Lehre Nummer vier, internationale Unterstützung. Nur wenn glaubwürdige Vermittler, arabische Partner und natürlich der wichtigste Verbündete, die USA, selbst Verantwortung für Israels Sicherheit übernehmen und aktiv die Eindämmung der Hamas und den Wiederaufbau Gazas begleiten, können sie zum Wohle der Palästinenser Einfluss auf die israelische Politik nehmen. Wer will, dass Israel Gaza verlässt, muss selbst für Ordnung sorgen.
Israels arabische Nachbarn Jordanien, Ägypten und Saudi-Arabien haben diese Lehre verstanden. Noch aber sind, Lehre Nummer fünf, zu wenige bereit, dieses Risiko einzugehen. Dabei stimmt es nicht zuversichtlich, dass ausgerechnet jetzt, in der größten Krise Israels, die schlechteste Regierung an der Macht ist, die auf rein militärische Logik setzt und das Land gefährlich isoliert.
Der 7. Oktober hat die Welt neu sortiert
Und trotzdem, oder vielleicht genau deshalb, treffe ich mehr Menschen denn je, die ernsthaft über Alija nachdenken. Der 7. Oktober nämlich, Lehre Nummer sechs, hat die Welt neu sortiert, in ein jüdisches »Wir«, ein Kollektiv der Opfer, der Angegriffenen – unabhängig von jeder religiösen, politischen, sozialen Zugehörigkeit –, in das »Sie« der Täter und ihres Umfelds und ein »Ihr«, das alle Schattierungen von solidarisch und empathisch über gleichgültig, reserviert, feindselig bis hasserfüllt umfasst.
Und genau das führt zur wichtigsten Erkenntnis überhaupt, zu Lehre Nummer sieben: Der 7. Oktober 2023 und die Reaktion darauf – der Verrat der globalen Linken und des Feminismus und die moralische Bankrotterklärung der Völkergemeinschaft, die jüdisches Leid marginalisiert, leugnet oder achselzuckend hinnimmt – hat Juden weltweit bewusst gemacht, was es heißt, als jüdische Minderheit auf das Wohlwollen der Mehrheit angewiesen zu sein.
Während hierzulande viele ihre Mesusa abhängen, vorsichtshalber Uber nicht mehr nutzen und nicht mehr mit Davidstern auf die Straße gehen, gibt es in Israel mitten im Krieg riesige Demonstrationen für die Forderung »Bring Them Home Now«. Nach Hause, nach Israel.
Der 7. Oktober wird fortan auch immer als der Tag im jüdischen Gedächtnis bleiben, der daran erinnert, warum es Israel gibt und dass die wahre Stärke Israels seine Menschen sind, die selbst jetzt nicht den Humor verlieren. Israelis twitterten: »Erste Direktflüge vom Iran nach Israel seit 1979«.
Die Autorin ist Journalistin und Filmemacherin.