Bis zum 24. Februar 2022 schien Deutschland jener sicherheitspolitische Kompass abhandengekommen zu sein, der dem Postulat der »wehrhaften Demokratie« gerecht wird. Diese deutsche Ignoranz war angesichts der geopolitischen Dynamik und neuer weltpolitischer Realitäten schon lange grob fahrlässig. Sie hat uns verwundbar gemacht. Und sie hat eine Schwäche offenbart, die Wladimir Putin ermutigt hat, einen barbarischen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine und ihre Bevölkerung zu führen.
Deutschland konnte diesen Krieg nicht verhindern, weil man die falschen Schlüsse zog aus Putins langjährigem Aggressionskurs gegen den Westen und besonders gegen jene Staaten, die sich aus dem Würgegriff des Kreml befreien wollten. Gerade Berlin gab sich lange Zeit einer Illusion im Umgang mit Russland hin – wohl auch, weil man nicht so genau hinschauen wollte.
Abhängigkeit Schlimmer noch: Man begab sich zusehends in die Abhängigkeit der Energie- und Rohstoffmacht Russland. Obgleich man gewarnt war: Da war die Brandrede Putins 2007 auf der Münchner Sicherheitskonferenz. Ein Jahr später kam der Krieg in Georgien, 2014 die russische Annexion der Krim und der Krieg im Donbass. Im Nahen Osten festigte Moskau die Macht von Syriens Schlächter Assad durch Bombenterror.
Man wusste von russischen Generalstabsoffizieren, die nukleare Angriffsstrategien durchspielen. Und von der Bedrohung durch die in Kaliningrad stationierten Iskander-Raketen, die in fünf Minuten Berlin erreichen können.
Bis zum 24. Februar schien Deutschland jener sicherheitspolitische Kompass abhandengekommen zu sein, der dem Postulat der »wehrhaften Demokratie« gerecht wird.
Trotz allem war es politisch nicht opportun, gegen diese Bedrohungsszenarien etwas zu tun. Deutschland hatte sich seit der Zeitenwende von 1990/91 an der »Friedensdividende« satt und träge gefressen. Verteidigung, Bundeswehr, Wehrpflicht und Zivilschutz: Wozu denn noch? Ist man nicht von Freunden umzingelt? Ein Krieg an der Ostflanke, vielleicht eine direkte Konfrontation mit Russland? So unwahrscheinlich wie das Auftreten eines »schwarzen Schwans«, jener Vogelgattung, die der US-Finanzmathematiker Nassim Nicholas Taleb zu einer Metapher für extrem selten auftretende Ereignisse mit schwerwiegenden Folgen deklariert hat.
Für die risikoaverse Politik in unserem Land diente der »schwarze Schwan« lange als gute Ausrede dafür, angesichts des scheinbar Undenkbaren lieber unbekümmert dem tagespolitischen Trott zu folgen. Vorausschauendes Risikomanagement? Aufbau von Verteidigungs- und Resilienzfähigkeiten? Solche drastischen Schritte hätten das bundesrepublikanische Wohlfühlmodell nur unnötig verunsichert.
Zurück bleibt ein sicherheitspolitischer Scherbenhaufen, eine kaputtgesparte und für größere militärische Operationen nicht einsatzfähige Bundeswehr, vom in großen Teilen nicht mehr existenten Zivilschutz ganz zu schweigen.
Mit der jüngst ausgerufenen sicherheitspolitischen Zeitenwende kann, nein, muss es die Politik nun besser machen. Die 100 Milliarden Euro mehr für die Bundeswehr und verbesserte Verteidigungskapazitäten sollten mit Bedacht ausgegeben werden und dabei auch die zivile Verteidigung und einen vorausschauenden Bevölkerungsschutz nicht vergessen. Vor allem gilt es, angesichts der ballistischen Bedrohung aus Russland und übrigens auch dem Iran rasch die Fähigkeitslücke bei der Raketenabwehr zu schließen. Bisherige Entwicklungsversuche für ein neues taktisches Luftverteidigungssystem scheiterten an Geld und politischem Willen.
Verteidigung Jetzt ist Gefahr im Verzug. Abhilfe kann hier das »Arrow 3«-System aus Israel schaffen, das mit hochsensiblen Radaranlagen anfliegende feindliche Langstreckenraketen schon kurz nach dem Start erkennt und die feindliche Rakete im Weltraum eliminiert. Immerhin, ein Verteidigungsvakuum wird nach langer politischer Debatte mit dem Kauf von 140 israelischen Heron TP – bewaffnet, wohlgemerkt – nun zügig behoben.
Mit der jüngst ausgerufenen sicherheitspolitischen Zeitenwende kann, nein, muss es die Politik nun besser machen.
Überhaupt sollte der Aufbau einer Raketenabwehr und der künftige Einsatz von Heron-Drohnen Anlass für Deutschland sein, nicht nur einen solchen Schutzschirm gleich im größeren Kontext zum Schutz der NATO-Nordostflanke zu denken, sondern den Ausgangspunkt darstellen, die sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit Israel auf breiter Basis zu vertiefen.
Israel, seit über 70 Jahren umgeben vom Feuerring einer unsicheren Nachbarschaft und in stetiger hochalerter Verteidigungsbereitschaft, sollte nicht nur Vorbild für Deutschland sein, die Notwendigkeit eines wehrhaften Staates wiederzuentdecken. Es kann auch zu einem effizienten, hochtechnologisierten Zivilschutz beitragen. So könnte mit einem Cyber-»Iron Dome« die kritische Infrastruktur des Landes geschützt werden.
Auch die allgemeine Wehrpflicht, die in Israel wesentlich zum Zusammenhalt in der Gesellschaft beiträgt und diese resilienter macht, sollte Deutschland als Beispiel dienen. Denn die sicherheitspolitische Zeitenwende hierzulande kann nicht nur durch den Einkauf von modernen Waffensystemen sichergestellt werden. Letztlich geht es um die Verteidigung unserer Freiheit. Klar ist: Die Zeit der Beschwichtigungen und Ausreden ist endgültig vorbei.
Der Autor ist Sicherheitsexperte und Oberstleutnant der Reserve. Er war langjähriger Kommunikationschef der Münchner Sicherheitskonferenz.