Die Fernsehbilder dieses Sommers verstören: Weinende Kinder, verzweifelte Frauen und Männer stehen irgendwo in Mazedonien an Schlagbäumen und werden von Polizei und Militär mit Schlagstöcken und Tränengas daran gehindert, die Grenze zu überschreiten. In Österreich sterben mehr als 70 Flüchtlinge, darunter auch Kinder, qualvoll in einem Lkw. In Deutschland werden geplante Asylbewerberheime von Ausländerfeinden in Brand gesetzt, damit auch ja niemand dort aufgenommen werden kann. In Calais riskieren täglich Menschen ihr Leben, um irgendwie nach Großbritannien zu gelangen.
Der lange Krieg in Syrien, Irak und Afghanistan und die Konflikte in Nord- und Zentralafrika waren jahrelang zwar medial präsent in unseren Wohnzimmern, aber doch irgendwie ziemlich weit weg. Nun aber kommen die geschundenen Menschen zu Hunderttausenden zu uns nach Europa. Oftmals zu Fuß. Europa kann sich nun nicht mehr abwenden und dem Elend einfach zusehen.
grenzsicherung Manche sind versucht, das sprichwörtliche Wohnzimmer besser abzuriegeln, damit auch ja niemand mehr hereinkommt. Einige EU-Länder scheinen Grenzsicherung mit allen Mitteln für das probate Rezept zu halten. Das ist es aber nicht. Ja, Europa muss jetzt handeln. Und zwar gemeinsam und nicht jedes Land für sich alleine. Es ist Zeit für eine Flucht in die Verantwortung.
Aber die Antwort darf nicht sein, die Schotten dicht zu machen. Das wäre nicht nur sinnlos, sondern moralisch völlig unhaltbar. Der Satz, dass man die Fluchtursachen am besten in den Herkunftsländern bekämpft, wird zwar viel gebraucht. Aber angesichts der aktuellen Lage in Syrien und im Irak, wo jedes Jahr Zehntausende abgeschlachtet werden, klingt er zynisch.
Viele Juden blenden beim Anblick der Flüchtenden im kollektiven Gedächtnis wahrscheinlich 80 Jahre zurück. Bei Hitlers Machtübernahme 1933 lebten etwa 500.000 Juden im damaligen Deutschen Reich. Ungefähr der Hälfte davon gelang es, den Nazis durch Flucht und Emigration zu entkommen. Kaum einer dieser deutschen Juden gab damals leichten Herzens seine Heimat auf. Und doch war die Flucht die lebensrettende Entscheidung.
evian-konferenz Auch damals waren die Grenzen der meisten Länder geschlossen. Bei der unsäglichen Evian-Konferenz von 32 Staaten im Jahr 1938 fand sich nur ein einziges Land bereit, eine größere Zahl von jüdischen Flüchtlingen aufzunehmen: die Dominikanische Republik. Die Katastrophe kam kurz nach Evian, und flüchtende Juden wurden von manchen Ländern sogar nach Nazi-Deutschland zurückgeschickt, als schon klar war, was sie dort erwarten würde.
Nicht nur Regierungen, sondern auch viele Menschen haben Konsequenzen gezogen aus den Erfahrungen mit der Zeit des Holocaust. Zudem besteht mit Fernsehen und sozialen Netzwerken heute nicht nur ein viel größeres Maß an Information und Aufklärung, sondern es kann damit auch öffentlicher Druck auf die Politik erzeugt werden.
Die Hilfsbereitschaft bei den Menschen in Deutschland ist groß. Sie manifestiert sich nicht nur in Spenden, sondern auch in vielen bürgerschaftlichen Initiativen, die ankommenden Flüchtlingen direkt und unkompliziert helfen. Auch jüdische Gemeinden und Gruppen sind aktiv.
Das setzt einen wichtigen Kontrapunkt zu den verstörenden Bildern aus Heidenau und anderswo. Das gute Deutschland steht auf; es redet nicht nur, es handelt. Jüngste Umfragen, nach denen in Deutschland zumindest eine Mehrheit den Flüchtlingen helfen möchte, sind jedenfalls ein klares Zeichen, auch an die Politik: Wir werden das schaffen, wir werden diesen Leuten helfen, wir werden sie mit offenen Armen empfangen, wir können das schultern.
vorbilder Diese Menschen sind Vorbilder. Man möchte dem Bundespräsidenten förmlich zurufen: Geben Sie ihnen das Bundesverdienstkreuz, und zwar so schnell wie möglich. Und der Bundesregierung und den Länderregierungen möchte man zurufen: Unterstützen Sie die freiwilligen Helfer!
Man redet oft und viel davon, die Lehren aus der Geschichte zu ziehen. Man muss es aber auch tun. Der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, brachte es auf den Punkt: »Deutschland hat so viel Unheil über die Welt gebracht. Es steht bei so vielen Ländern tief in der Schuld – wir sind das letzte Land, das es sich leisten kann, Flüchtlinge und Verfolgte abzulehnen.«
Das gilt in abgemilderter Form natürlich auch für andere europäische Länder. Europa darf deshalb nicht nur die Grenzkontrollen verschärfen, sondern muss auch Kapazitäten zu humanitärer Hilfe schaffen.
Natürlich kann Solidarität nicht politisch verordnet werden, sondern muss von der Gesellschaft mitgetragen werden. In Deutschland passiert das gerade, auch wenn es manchen überraschen mag. Das ist die beste Antwort auf Heidenau und anderswo. Darauf können die Deutschen ruhig stolz sein.
Der Autor ist stellvertretender Geschäftsführer des Jüdischen Weltkongresses (WJC) und Leiter des Brüsseler WJC-Büros.