Der Prozess am Landgericht Detmold gegen den früheren SS-Wachmann in Auschwitz Reinhold Hanning hat drei Tatsachen ins öffentliche Bewusstsein gerufen, deren Bedeutung wir gar nicht hoch genug einschätzen dürfen: Erstens leben noch immer Täter unter uns. Es sind Menschen im Greisenalter, die an grausamen Verbrechen beteiligt waren, aber ihr Leben lang unbehelligt blieben.
Zweitens sind nicht nur die Überlebenden der Konzentrationslager für ihr ganzes Leben gezeichnet und haben unter den einstigen Qualen gelitten oder leiden noch heute darunter, sondern oftmals sind auch ihre Kinder und Enkel mit diesem Erbe belastet. Und drittens sind noch einmal die schier unfassbaren Versäumnisse der deutschen Justiz – ein Spiegelbild der Gesellschaft – in den vergangenen Jahrzehnten deutlich geworden.
gerechtigkeit Diese letzten Prozesse gegen NS-Täter sind für die Opfer und ihre Familien extrem wichtig, weil sie ihnen zumindest ein Gefühl von Gerechtigkeit geben. Eine Zeugin in Detmold sagte, jetzt könne ihr ermordeter Vater endlich in Frieden ruhen.
Daneben können aber gerade die jüngeren Generationen aus diesen Prozessen sehr viel lernen. Sie können sehen, dass Beharrlichkeit sich lohnt. Ohne engagierte Staatsanwälte wäre es auch zu diesen jüngsten Prozessen nicht gekommen. Sie haben Schilderungen der Zeugen hören können, die den Atem stocken lassen. Sie konnten beobachten, wie diese Menschen jeden Tag ihres Lebens an Auschwitz denken müssen.
Unserer ganzen Gesellschaft hat der Prozess noch einmal vor Augen geführt, wozu Menschen fähig sind und wohin Hetze gegen Minderheiten im Extremfall führen kann. Deshalb darf kein Schlussstrich gezogen werden, wenn der letzte noch lebende NS-Täter verurteilt ist. Wir sind es den Opfern und ihren Nachkommen schuldig, die Erinnerung wachzuhalten. Und wir brauchen dieses Wissen um die Vergangenheit – damit wir den Schutz der Menschenwürde immer verteidigen werden.
Der Autor ist Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland.