RIAS

»Katastrophale Zahlen«

Daniel Botmann, Geschäftsführer des Zentralrats der Juden, Felix Klein, Antisemitismusbeauftragter der Bundesregierung, Bianca Loy, wissenschaftliche Referentin bei RIAS und Benjamin Steinitz, geschäftsführender RIAS-Vorstand Foto: picture alliance/dpa

»In allen Lebensbereichen werden Jüdinnen und Juden angefeindet, bedroht und angegriffen. Ein offenes jüdisches Leben ist seit dem 7. Oktober noch weniger möglich als zuvor.« Dieses alarmierende Fazit zog RIAS-Geschäftsführer Benjamin Steinitz am Dienstag bei der Vorstellung des Jahresberichts antisemitischer Vorfälle in Deutschland 2023 des Bundesverbandes der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS).

RIAS unterhält ein bundesweites Netzwerk von elf Meldestellen, bei denen Betroffene oder Zeugen solche Vorfälle dokumentieren lassen können. Dabei geht es um Angriffe und Bedrohungen, aber auch um Pöbeleien oder Anfeindungen. Im aktuellen Jahresbericht wurden 4.782 antisemitische Vorfälle dokumentiert. Das sind fast 83 Prozent mehr als im Vorjahr - und so viele wie noch nie. Hintergrund sei ein sprunghafter Anstieg solcher Angriffe und Anfeindungen gegen Jüdinnen und Juden in Deutschland seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober. Allein 2.787 Vorfälle ereigneten sich seitdem bis zum Jahresende.

Welche konkreten Auswirkungen diese antisemitischen Vorfälle haben, machte der Geschäftsführer des Zentralrats der Juden in Deutschland, Daniel Botmann, deutlich. Er verwies auf eine Umfrage unter den Vorsitzenden jüdischer Gemeinden und Landesverbände, in der die Befragten von Angst vor Übergriffen und einer großen Verunsicherung unter den Mitgliedern berichteten. 78 Prozent gaben an, dass sich ihr Leben in Deutschland in negativer Weise verändert habe. Eine weitere aktuelle Befragung im Rahmen des Gemeindebarometers ergab, dass 38 Prozent der Befragten seit dem 7. Oktober häufiger auf den Besuch jüdischer Veranstaltungen verzichten. 76 Prozent äußerten den Eindruck, dass es in ihrer Stadt unsicherer geworden ist, als Jüdin oder Jude zu leben und sichtbar zu sein.

»Jüdinnen und Juden erleben den öffentlichen Raum als zunehmend unsicher und haben vielfach Angst, sich als jüdisch zu erkennen zu geben.«

Botmann betonte, dass die Ereignisse um und nach dem 7. Oktober und der Folgezeit eine tiefe Zäsur für die jüdische Gemeinschaft in Deutschland markieren. »Jüdinnen und Juden erleben den öffentlichen Raum als zunehmend unsicher und haben vielfach Angst, sich als jüdisch zu erkennen zu geben. Sorge bereitet vielen auch die Frage, ob in Zukunft ein freies und sicheres Leben als Juden in Deutschland möglich sein wird.« Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, sprach im Zusammenhang mit dem RIAS-Jahresbericht von »katastrophalen Zahlen«. Auch der in der vergangenen Woche veröffentlichte Bericht des Bundesamtes für Verfassungsschutz zeige detailliert, wie massiv der Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober auch in Deutschland als Brandbeschleuniger für antisemitischen Hass und Gewalt gewirkt habe. Jüdisches Leben sei in Deutschland so stark bedroht wie nie zuvor seit Bestehen der Bundesrepublik. »Die Bundesregierung kann und wird das nicht akzeptieren«, versicherte Klein.

Er bekräftigte seine Forderung, den Strafverfolgungsbehörden effektive Mittel zur umfassenden Bekämpfung judenfeindlicher Hetze und Gewalt zur Verfügung zu stellen. So müsse das Strafgesetzbuch ergänzt werden. Der Aufruf zur Vernichtung anderer Staaten müsse unter Strafe gestellt werden. Auch sollten die Hetze gegen nicht inländische Personen und Gruppen sowie antisemitische Chiffren unter den Straftatbestand der Volksverhetzung fallen.

Mit Blick auf antisemitische Vorfälle in Schulen und Universitäten sprach Steinitz von einem »tiefgreifenden Problem«

RIAS-Geschäftsführer Benjamin Steinitz sagte, er verstehe den vorgelegten Jahresbericht als Weckruf. Der Staat trage die Verantwortung für Jüdinnen und Juden, eine sichere Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu gewährleisten.

Mit Blick auf antisemitische Vorfälle in Schulen und Universitäten sprach er von einem »tiefgreifenden Problem«. Jüdischen Schülerinnen und Studierenden müsse eine diskriminierungsfreie Lernatmosphäre ermöglicht werden. »Es besteht sonst die Gefahr, dass das Grundrecht auf Bildung nicht mehr wahrgenommen werden kann.« »Es liegt aber an uns, an der Normalisierung von Antisemitismus Einhalt zu gebieten. Alle sind gefragt, gegen jede Form des Antisemitismus konsequent Widerrede zu leisten«, so Steinitz. Er forderte, dass Polizei und Justiz den Perspektiven und dem Schutz von Betroffenen einen größeren Stellenwert beimessen müssen. Zugleich warnte er, dass zivilgesellschaftliche Projekte und Initiativen in ihrer Existenz bedroht seien, Sparmaßnahmen hätten fatale Konsequenzen für Betroffene und den demokratischen Zusammenhalt.

Zugleich kritisierte Steinitz, dass sich die demokratischen Fraktionen des Bundestages auch mehr als acht Monate nach dem 7. Oktober noch nicht auf einen gemeinsamen Entschließungsantrag zur Bekämpfung von Antisemitismus einigen konnten.

Immerhin formulierten die Fraktionen von SPD, CDU/CSU, Bündnis90/Die Grünen, FDP und Linke eine gemeinsame Erklärung zum am Dienstag vorgestellten RIAS-Jahresbericht. Darin heißt es: Der Kampf gegen Antisemitismus ist für alle demokratischen Fraktionen im Bundestag eine gemeinsame Verpflichtung. Angesichts des historischen Höchststandes antisemitischer Vorfälle in Deutschland sei dies wichtiger denn je. »Wir verurteilen jede Anfeindung gegen Jüdinnen und Juden und setzen uns für ein selbstverständliches, sichtbares und sicheres jüdisches Leben in Deutschland ein.« (mit dpa)

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