Am Ende dieses bewegten Jahres 5781 sollten wir innehalten und uns fragen: Wo stehen wir? Wir befinden uns leider weiterhin in einer Situation, die ein uneingeschränktes Gemeindeleben nicht erlaubt. Die Covid-19-Pandemie ist nicht ausgestanden. Noch immer erleben wir G’ttesdienste, in der die Beter weit auseinander und mit Maske im Gesicht versammelt sind. Die steigende Impfquote gibt Hoffnung – an dieser Stelle mein erneuter Appell: Lassen Sie sich impfen! –, doch die Ungewissheit bleibt. Werden wir Pessach völlig unbeschwert feiern? Oder liegt dann eine noch schlimmere vierte Welle hinter uns?
Zudem haben wir im vergangenen Jahr Bilder von Demos der Corona-Leugner gesehen, die uns erschreckt haben. Antisemitische Verschwörungsnarrative sind das verbindende Element dieser sogenannten Querdenker. Ihre Schnittmengen mit Rechtsextremisten sind groß. Die gestiegene Zahl antisemitischer Straftaten im Jahr 2020 geht nicht zuletzt auf diese Demos zurück. Es ist zu befürchten, dass diese Netzwerke Bestand haben. Das hinterlässt in der jüdischen Gemeinschaft ein flaues Gefühl im Magen.
Und im Mai sahen wir wieder erschreckende Bilder von Demonstrationen: Vor mehreren Synagogen wurden israelische Fahnen verbrannt. Nach der ersten Gegenwehr Israels gegen palästinensische Terrorangriffe versammelte sich in kürzester Zeit in Deutschland ein wütender Mob auf der Straße und skandierte judenfeindliche Parolen. Ähnlich wie 2014. Nichts ist besser geworden.
Die letzten Monate von 5781 waren schließlich geprägt von der Hochwasserkatastrophe im Westen Deutschlands, von Waldbränden rund um das Mittelmeer, dem Erdbeben in Haiti und der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan. Stehen wir überhaupt noch? Oder hat uns das Weltgeschehen umgeworfen?
Wenn ich nachdenke, wo die jüdische Gemeinschaft derzeit steht, fallen mir glücklicherweise auch ganz andere Dinge ein: das Festjahr 1700 Jahre JLID zum Beispiel. Ich muss zugeben: Eine solch überwältigende Resonanz landauf, landab hätte ich nicht erwartet. Jüdisches Leben rückt neu ins Bewusstsein unserer Gesellschaft – in all seinen Facetten, mit seiner reichen Geschichte, mit seiner faszinierenden Gegenwart.
Zu dieser Gegenwart gehört auch der Start der jüdischen Militärseelsorge in der Bundeswehr. Es war ein historischer Tag, als wir im Juni Zsolt Balla als ersten Militärbundesrabbiner in sein Amt eingeführt haben. Auch hier überwältigt mich die positive Resonanz der Soldaten sowie ihre Neugier. Die Militärseelsorge ist eine riesige Chance für uns und für die Armee – und damit für die Gesellschaft.
Und jetzt begehen wir wieder ein historisches Ereignis: An diesem Donnerstag ist der erste Spatenstich für die Jüdische Akademie in Frankfurt am Main. Wir schaffen einen neuen intellektuellen Mittelpunkt innerhalb der jüdischen Gemeinschaft, der vernetzt ist mit der nichtjüdischen Umgebung.
Um Antworten auf die Fragen zu finden, wo wir stehen und wer wir sind, braucht es Orte des Nachdenkens und des Diskurses. Orte wie die Jüdische Akademie, aber auch wie das Zentralarchiv zur Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland. Dort wird die Erinnerung bewahrt, dort sind sozusagen die Wurzeln der jüdischen Gemeinden archiviert. Wie fing alles wieder an nach der Schoa? Welche Hürden mussten genommen werden? Welches Ziel hatten die Gründerinnen und Gründer der Gemeinden? Wir können nicht über 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland fundiert sprechen, wenn wir diese Quellen nicht kennen. Daher ist es ein weiteres schönes Ereignis, dass wir in rund zwei Wochen in Heidelberg die neuen Räume des Zentralarchivs und seine Erweiterung festlich begehen werden.
Gerade angesichts der Angriffe auf die Demokratie, die wir in unserem Land vermehrt erleben, angesichts rauer politischer Debatten und einer wachsenden Zahl radikaler Kräfte sind der Zusammenhalt und die Stärkung der Identität der jüdischen Gemeinschaft dringend notwendig. Dann können wir selbstbewusst und auf Augenhöhe in den Dialog eintreten mit anderen Gruppen. Dann werden wir gehört.
Denn noch wichtiger als die Frage, wo wir stehen, ist die Frage, wo wir hinwollen. Wofür treten wir ein? Wir haben eine Bundestagswahl vor uns, die spannend ist wie lange nicht, deren Ausgang aber auch sehr ungewiss ist. Wir wollen deutlich machen, dass wir hier in Deutschland ganz selbstverständlich unseren Platz haben.
Trotz aller Ungewissheiten sollten wir daher nicht verzagt, sondern gestärkt ins neue Jahr gehen.
Dazu möchte ich den großen Rabbiner Jonathan Sacks sel. A. zitieren, der leider im zurückliegenden Jahr von uns gegangen ist. Er schrieb 2019, also noch vor Ausbruch der Corona-Pandemie, hier in der Jüdischen Allgemeinen: »Glaube ist der Mut, mit der Ungewissheit zu leben. (….) Das 21. Jahrhundert wird von den Historikern eines Tages als das Zeitalter der Unsicherheit beschrieben werden. Wir als Juden sind der Welt Experten für Unsicherheit, denn wir leben seit Jahrtausenden damit.«
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen und allen Juden weltweit ein glückliches, gesundes, süßes neues Jahr, in dem Sie alle Ungewissheiten mit Gelassenheit aushalten! Schana Towa umetuka!
Der Autor ist Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland.