Die Politik hat es nicht einfach: Sie will so gerne Gutes tun, verändern, gestalten. Und muss dafür nicht selten eine saftige Tracht Prügel einstecken. Weil die Dinge nur selten so laufen, wie geplant. Oder weil unser politisches System und die Bürokratie die Prozesse schrecklich verlangsamen. Oder weil ein demokratisches Mehrparteiensystem aus Koalition und Opposition mitunter mehr Zeit mit gegenseitigen Vorwürfen und Blockaden zubringt als mit konstruktiven Lösungen.
Nicht immer sind die Prügel gerechtfertigt. Manchmal aber schon.
Etwa mit Blick auf die »Resolution zum Schutz jüdischen Lebens«, die vom Bundestag fraktionsübergreifend beschlossen werden sollte. Aus der Taufe gehoben wurde die Idee an einem geschichtsträchtigen Tag. Dem 9. November 2023. Dem Jahrestag der Pogromnacht. Also der Nacht, in der im Deutschland des Jahres 1938 die Synagogen brannten und Juden in Massen deportiert oder ermordet wurden.
Doch das war nicht der eigentliche Grund für die politische Initiative. Der eigentliche Grund lag knapp einen Monat zurück. Der eigentliche Grund war der 07. Oktober 2023. Und zwar nicht, weil an diesem Tag in Israel das größte Massaker an Juden seit der Schoa verübt wurde. Sondern wegen dem, was sich seit diesem Tag in Deutschland abspielte. Weit weg von dem eigentlichen Tatort. Wo sich alter und neuer Antisemitismus mit atemberaubender Intensität bahn brach. Ob auf der Straße oder in den Universitäten. In den Schulen oder den sozialen Medien. In der muslimischen Community oder der woken Linken. In der Kulturszene oder in queeren Milieus. Und anderswo.
Anfeindungen, Bedrohungen, Körperverletzungen, Sachbeschädigungen, Hass und Hetze gegen Israel, Israelis, Zionisten und Juden auf der einen Seite und ein eisiges Schweigen, eine klirrende Gefühlskälte und eine drastische Solidaritätsverweigerung auf der anderen Seite. All das waren schon am 09. November 2023 mehr als gute Gründe, um eine gemeinsame Resolution des Bundestages auf den Weg zu bringen. Eine Resolution zum Schutz jüdischen Lebens in Deutschland. Gerade und vor allem in Deutschland.
Dass diese Resolution dringend nötig ist, hat der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, erst kürzlich untermauert, als er mit Blick auf gut 5000 antisemitische Straftaten im Jahr 2023, von denen allein die Hälfte nach dem 07. Oktober begangen wurde, völlig zurecht von einem »Tsunami des Judenhasses« sprach.
Wer allerdings nun glaubt, dass die gemeinsame Initiative nach nunmehr zehn Monaten wohlschmeckende Früchte hervorgebracht hätte, der täuscht sich gewaltig. Denn so mutig und entschlossen sich das Ganze anließ, so schnell wurde klar, dass gar nichts klar war. Zuerst gab es zwei unterschiedliche Anträge von Koalition und Opposition. Dann monatelange Diskussionen. Dann ein Entwurf, der nach außen drang, obwohl er eigentlich nicht nach außen dringen sollte. Dann ein Aufschrei all der Bedenkenträger, die durch eine Resolution zum Schutz jüdischen Lebens andere Rechte in Gefahr sahen. Die Meinungsfreiheit, die Kunstfreiheit, die Freiheit von Kultur, Wissenschaft und Lehre und vieles mehr.
Wer seinen Verschwörungsfantasien freien Lauf lassen wollte, erkannte sofort, dass es nur eines Antrags zum Schutz der Juden brauchte, um die intellektuellen, kulturellen und politischen Eliten des Landes in Atem zu halten. So viel Macht haben sie, die Juden …
Doch das Ganze ist leider nicht zum Lachen. Ganz im Gegenteil. Denn während Politiker unter dem Dauerfeuer von Juristen, Kulturschaffenden, Wissenschaftlern und Wichtigtuern aller Art um die Resolution als solche und ihre Inhalte ringen, suchen Juden in Deutschland händeringend nach dem einen Gut, das für sie so rar ist: Sicherheit. Der Sicherheit, ohne Angst als Jude zu leben.
Der Sicherheit, seine Identität offenbaren zu können, ohne Sorge vor Anfeindungen oder Übergriffen haben zu müssen. Der Sicherheit, so sein zu können, wie man ist, ohne um seine Sicherheit bangen zu müssen. Zugegeben: Die Politik finanziert physische Sicherheit. Hilft dabei, Gebäude zu sichern und kollektives jüdisches Leben zu schützen. Mancherorts jedenfalls.
Doch all das erinnert an die Geschichte von Isaac Bashevis Singer, an die »Narren von Chelm«. Wenn die Bewohner von Chelm, deren Dorf sich auf einem hohen Berg befand, mit ihren Pferdekutschen ins Tal fuhren, geschah es ein ums andere Mal, dass sie in einer Haarnadelkurve ohne Begrenzung oder Leitplanken von der Straße abkamen und einen Abhang hinabstürzten. Da die Unfälle stets zu schweren Verletzungen der Bewohner führten, kamen die klügsten Köpfe von Chelm zusammen, um eine Lösung für das Problem zu finden.
Nach vielen Sitzungen schließlich hatten sie endlich eine Lösung für das Problem parat: Sie bauten am Fuße des Berges ein Krankenhaus, um die Verletzten versorgen zu können. Wenn unsere Realität nicht so ernst wäre, könnte man fast darüber lachen, oder? Fakt ist: Die Politik kann so viele Krankenhäuser bauen, wie sie will. Doch all das ist lediglich reaktiv. All das sind lediglich Maßnahmen, die ein Problem mildern sollen, das längst außer Kontrolle geraten ist.
Sicher: Auch eine gemeinsame Resolution, ist kein Allheilmittel. Wird den Hass auf Israel und auf Juden nicht verhindern. Aber sie kann ein starkes Zeichen setzen. Sie kann präventive Ansätze fördern. Sie kann Leitplanken ziehen. Eine klare und eindeutige gemeinsame, fraktionsübergreifende Resolution zum Schutz jüdischen Lebens in Deutschland also, die nicht durch parteipolitische Querelen und Aktivisten aller Art weichgespült wurde, wäre ein so dringend notwendiges und wichtiges Zeichen für die jüdische Gemeinschaft in diesem Land. Immer noch und vielleicht mehr denn je.
Doch noch ist nicht alles zu spät. Denn inzwischen haben sich angeblich die Vorsitzenden der Parteien das Thema zur Brust genommen. Hoffen wir, dass dies Ausdruck des ernsthaften politischen Willens ist, doch noch ein klares und eindeutiges Zeichen zu setzen. Denn Krankenhäuser haben wir. Doch nun braucht es endlich schützende Leitplanken. Und zwar so viele wie möglich. Bevor es zu spät ist.
Der Autor ist Vorsitzender des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen.