Gedenken

»Wir werden uns immer erinnern«

Nina Bassat hat als Kind die Schoa überlebt und kam mit ihrer Mutter 1949 nach Australien. Ein Gespräch über den 27. Januar, die freigelassenen israelischen Geiseln und die Weisheit ihrer Mutter

von Katrin Richter  26.01.2025 17:34 Uhr

»Ich werde ständig gefragt, ob ich Angst habe, weil ich in der Öffentlichkeit stehe«: Nina Bassat Foto: privat

Nina Bassat hat als Kind die Schoa überlebt und kam mit ihrer Mutter 1949 nach Australien. Ein Gespräch über den 27. Januar, die freigelassenen israelischen Geiseln und die Weisheit ihrer Mutter

von Katrin Richter  26.01.2025 17:34 Uhr

Frau Bassat, am 27. Januar ist der Internationale Holocaust-Gedenktag. Wie blicken Sie auf diesen Tag?
Wissen Sie, ich persönlich halte nicht viel von Tagen mit besonderer Bedeutung wie dem Frauentag oder dem Internationalen Holocaust-Gedenktag. Ich denke, das sind Gesten. An den Muttertag erinnern wir uns ganz bestimmt immer – wir alle lieben unsere Mutter. Von daher sind diese Tage für mich persönlich ein wenig künstlich. Andererseits gibt es Menschen, die daran erinnert werden müssen. Wenn es also diesem Zweck dient, wenn es jemanden zum Nachdenken darüber anregt, wie dieser Horror in einer zivilisierten Gesellschaft geschehen konnte, selbst wenn es nur zwei Menschen zum Nachdenken bringt, dann ist es einen solchen Tag wert. Gedenktage haben schon ihren Sinn, sie haben einen gewissen Wert. Aber sie sind eben auch eine Art Mechanismus, um uns zu erinnern. Wir Juden brauchen keinen solchen Mechanismus, um uns zu erinnern. Wir werden uns immer erinnern.

Wird es in Australien ein offizielles Gedenken geben?
Ja, jeder Staat hat sein eigenes Gedenken. In Victoria ist das Holocaust-Museum in Melbourne traditionellerweise Gastgeber. Viele auch nichtjüdische Gäste kommen, es gibt eine Keynote. Im vergangenen Jahr habe ich sie halten dürfen. Das Thema war Demokratie, gesehen durch die Augen einer Schoa-Überlebenden.

Welche Beobachtungen haben Sie mit den Zuhörern geteilt?
Dass wir eine Demokratie nicht als gegeben annehmen sollten, dass wir sie schätzen sollten. Ich habe auch Deutschland erwähnt, und die kurze Spanne von 52 Tagen, die es brauchte, um aus einer Republik eine Diktatur zu machen. Es geschieht schrittweise. Wir sind ein demokratisches Land; das werden wir auch immer bleiben, aber wir sollten uns stets bewusst sein, dass sich alles beinahe über Nacht ändern kann. Wenn wir also wieder zurück zum 27. Januar kommen, dann ist es schon sinnvoll, dass es diesen Tag gibt: insbesondere vor dem Hintergrund der vielen antisemitischen Übergriffe. Diese schlimme Judenfeindlichkeit hier in Australien haben wir nicht erwartet; man kann eben – und das zeigen diese Angriffe – nichts für selbstverständlich nehmen.

Vor allem nach dem 7. Oktober 2023 sind in Australien Jüdinnen und Juden, jüdische Einrichtungen und Synagogen attackiert worden. Wie gehen Sie damit um?
Ich werde ständig gefragt, ob ich Angst habe, weil ich in der Öffentlichkeit stehe. Ich veröffentliche ziemlich viel, schreibe sehr viel. Meine Familie, mein Mann, unsere Kinder und ich sind die einzige Familie Bassat in Australien. Es gibt also keine Möglichkeit, sich zu verstecken. Aber ich sage mir: Ich bin, wer ich bin, und ich tue, was ich tue. Und nur meinen Vornamen zu nennen, das kam für mich nicht infrage. Das ist feige. Natürlich gibt es Menschen in der jüdischen Gemeinschaft, die Angst haben. Schüler, die in der Schule gehänselt und bespuckt werden, Studenten an der Universität, die vom Unterricht ausgeschlossen werden, die körperlich und verbal misshandelt werden. Künstler, die nicht gebucht werden, die Verträge verloren haben, deren Freunde – lebenslange Freunde wohlgemerkt – nicht mehr mit ihnen reden. In Melbourne wurde eine Synagoge niedergebrannt, andernorts wurden Gotteshäuser beschädigt oder verwüstet. Das ist schlimm und schockierend. Sie sollten unantastbar sein. Auf so etwas waren wir nicht vorbereitet. Trotzdem sage ich: Wir sind stark.

Wie geht die australische Gesellschaft mit diesen Übergriffen um?
Ich glaube, dass eine schweigende Mehrheit hinter uns steht. Daran glaube ich wirklich. Und wir haben jetzt Untersuchungen durchgeführt, die das auch beweisen. Aber der Punkt ist: Diese schweigende Mehrheit ist nutzlos, wenn sie schweigt. Wir stehen in Australien kurz vor der Wahl, und ich sage den Menschen immer: Wenn ihr mit etwas nicht einverstanden seid, dann benennt es. Mir ist allerdings auch klar, dass das Thema Antisemitismus für den durchschnittlichen Australier nicht unbedingt oberste Priorität hat. Es mag vielen nicht gefallen, was vor sich geht, aber es ist nicht ihre größte Sorge.

Was also ist Ihr Rat?
Ich betrachte es immer unter dem Gesichtspunkt, dass es nicht um uns Juden geht. Es geht darum, in welcher Gesellschaft man leben will. Heute haben sie es auf die Juden abgesehen, morgen mögen sie vielleicht keine Transgender-Menschen, und am nächsten Tag sind sie vielleicht gegenüber den Ureinwohnern feindlich eingestellt. Wenn man eine Gesellschaft toleriert, die bösartig und hässlich ist und die diskriminiert, kann sich diese Diskriminierung wie ein Lauffeuer verbreiten. Und das sollte auf keinen Fall passieren.

Trotzdem scheinen auch gerade jüngere Menschen ein antisemitisches Weltbild zu haben, das sich offenbar zunehmend verfestigt.
Mir sind da ein paar Dinge aufgefallen: Fragt man eine hübsche junge 18-Jährige, die gerade »From the River to the Sea« gerufen hat, was das eigentlich genau bedeutet, dann weiß sie nicht, was sie sagt. Sie und andere rufen Dinge, von denen sie keine Ahnung haben. Die LBGT-Gemeinschaft in Australien hat sich zu 100 Prozent für die Hamas eingesetzt. Es ging sogar so weit, dass sie dieses Jahr keinen jüdischen Wagen bei der Pride Parade akzeptieren wollte. Die jüdischen Gruppen, die darauf bestanden haben, doch mitzumachen, mussten von der Polizei beschützt werden. Wissen die Leute nicht, dass man, wenn man als Mensch der LGBT-Gemeinschaft in die Hände der Hamas fällt, wenn man »Glück« hat, »nur« aus dem Fenster geworfen wird? Ansonsten wird man gefoltert und dann aus dem Fenster geworfen. »Nein, nein, nein, das denkst du dir nur aus«, heißt es dann schnell, aber das ist nun einmal die Realität, die viele nicht wahrhaben wollen.

Wie haben Sie am Sonntag die Freilassung der drei Frauen aus den Händen der Hamas beobachtet?
Ich habe geweint. Um sie und um die, die sie jetzt den Rest ihres Lebens sein werden. Ich weine um alle, die noch als Geiseln festgehalten werden und deren Leben für immer ruiniert ist.

Sie haben sich neben Ihrer Arbeit in der jüdischen Gemeinschaft Australiens auch immer für Frauenrechte eingesetzt. Wie war Ihre Reaktion auf die UN Women, die erst geraume Zeit nach den Überfällen am 7. Oktober 2023 sexualisierte Gewalt auch als solche erwähnte?
Für mich verkörperte das die totale Ohnmacht und die komplette Unfähigkeit der Vereinten Nationen, die Welt in echten geopolitischen Zusammenhängen zu sehen. Sie blicken auf die Welt durch ihren eigenen Trichter. Und es ist der Trichter von Ländern wie dem Iran und dem Irak. Wie können diese Länder über die Ethik, die Moral und die Standards anderer Menschen bestimmen? Wie kann man es zulassen, dass Südafrika eine Klage vor Gericht bringt? Wissen Sie: Ich habe das Gefühl, in einer kafkaesken Welt zu leben. Alles ist auf den Kopf gestellt. Alles ist anders. Nichts ergibt einen Sinn. Und für mich fallen die Aktionen der Frauenorganisation der Vereinten Nationen genau in diese Kategorie, in der ich mich befinde. Jüdische Frauen haben nicht die gleichen Rechte. Wo sind sie? Welche Glaubwürdigkeit geben sie denn vor? Das ist eine Umkehrung von allem, was wir verstehen und was wir glauben.

Nina, zu einem ganz anderen Thema. Sie haben ein Buch über die Geschichte Ihrer Familie geschrieben. Es heißt »Take the Child and Disappear« – »Nimm das Kind und verschwinde«. Wann wussten Sie, dass es Zeit war, alles aufzuschreiben?
Mir war es eigentlich schon seit Längerem klar, denn ich wollte mit der Schtetl-Mentalität über Juden, die nur Jiddisch sprachen, aufräumen. Meine Familie war eben überhaupt nicht so.

Wie war sie?
Mein Vater hatte im Alter von 22 Jahren zwei Abschlüsse. Mein Großvater mütterlicherseits war ein Getreideimporteur und -exporteur, ein Naturforscher und der erste Mensch in der Stadt, der hebräische, nicht-religiöse Bücher hatte, obwohl er ein religiöser Jude mit Bart war und sich an die Regeln hielt. Mein Großvater sprach vier Sprachen. Er war Mitglied des polnischen Stadtrats. Mein Vater spielte an der Universität Tennis. Das sind nicht die Stereotype, die man von Juden hat. Mein Vater kam aus einer völlig assimilierten Familie. Meine Mutter kam aus einer Mizrachi-Familie. Ich vereinte also all diese verschiedenen Strömungen und wusste eigentlich nicht so viel. Mein Vater wurde ermordet, als ich zwei Jahre alt war. Meine Großeltern wurden umgebracht, als ich drei oder vier war. Ich habe in dem Buch mit 1931 begonnen und beende es 1949, als wir in Australien ankamen. 18 Jahre also – ein schönes Symbol.

Hat Ihnen das Schreiben des Buches geholfen?
Ja, das hat es. Und es hat mir verdeutlicht, wie sehr mein Leben durch die Tatsache, eine Überlebende zu sein, geprägt war. Wissen Sie, ich hatte eine unglaublich ausgeglichene, vernünftige und intelligente Mutter. Sie war ein Geschenk. Ich erinnere mich zum Beispiel daran, dass ich als Kind einmal gesagt habe: »Ich hasse die Deutschen.« Und sie antwortete mir: »Nein, du kannst die Menschen nicht hassen. Es gibt gute Deutsche und schlechte Deutsche. Gute Juden und schlechte Juden. Verwende niemals das Wort ›Hass‹ in Bezug auf eine ganze Gruppe von Menschen, die du kennst.« So war meine Mutter. Sie hat die Dinge immer ins rechte Licht gerückt. Und sie hat nie gehasst. Mutter war unglaublich optimistisch, und sie hat uns gerettet. Ich meine, wir waren im Ghetto. Sie hat uns gerettet. Ich dachte immer, dass ich als Kind, das überlebt hat, unversehrt davongekommen bin, weil sie mich immer bei sich behalten hat. Ich war von diesem Gefühl des Schutzes umgeben.

Wie hat sie Ihr Leben geprägt?
Mir wurde bewusst, wie sehr mein Engage­ment in der jüdischen Gemeinschaft mit meinem Leben zu tun hat. 1,5 Millionen Kinder wurden getötet. 100.000 von uns haben überlebt. Schauen Sie sich die demografische Lücke an, die sich dadurch für meine Bevölkerungsgruppe auftut. Ich habe mich immer schuldig gefühlt, weil ich überlebt habe. Ich meine, ich habe nichts getan, um mich schuldig zu fühlen. Aber warum ist das so? Und wie habe ich überlebt, wenn all diese Menschen nicht überlebt haben? Ich habe mich deshalb verpflichtet gefühlt, alles zu tun, um mein Leben auszufüllen. Ich wollte nicht nur Tennis spielen und mit dem Hund nach draußen gehen.

Mit der Schoa-Überlebenden sprach Katrin Richter.

Nina Bassat wurde 1939 im damals polnischen Lwow geboren. Sie überlebte mit ihrer Mutter ein Ghetto, beide waren anschließend im DP Camp Bad Wörishofen und kamen 1949 nach Melbourne. Bassat war die erste Frau an der Spitze des Jewish Community Council of Victoria und die zweite Präsidentin des Executive Council of Australian Jewry.

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