Herr Rabbiner, Sie sind nach Deutschland gekommen, um sich die Passionsspiele in Oberammergau anzusehen. Was treibt einen New Yorker Juden dahin?
Seit mehr als hundert Jahren reisen jüdische Theologen aus Amerika zu den antijüdischen Spielen. Vor allem seit 1945 beobachtet die amerikanisch-jüdische Gemeinschaft die Passionsspiele sehr intensiv, denn in Oberammergau blieb nach der Schoa lange Zeit alles beim Alten. Gruppen von amerikanischen Juden begannen allmählich, den in den Passionsspielen enthaltenen Antisemitismus aufzudecken.
Wie judenfeindlich sind die Spiele heute?
Im Lauf der Jahrzehnte, vor allem 1990, ist es uns gelungen, tief greifende Veränderungen herbeizuführen, die für die Beziehungen zwischen Juden und Christen sehr nützlich sind.
Im vergangenen Herbst haben Sie sich mit den beiden Regisseuren und dem theologischen Berater der Spiele getroffen. Worum ging es dabei?
Wir haben über Streitpunkte verhandelt. Über einige Ergebnisse sind wir enttäuscht. Aber immerhin: Es gibt etliche Veränderungen. Wir sehen es als Prozess.
Was sind die Erfolge?
Zum Beispiel tritt in der aktuellen Fassung der römische Statthalter Pontius Pilatus früher auf als bisher. Die Zuschauer sehen: Es war nicht nur so, dass die jüdische Gemeinschaft Jesus an die Römer auslieferte, sondern die Juden taten etwas, was die Römer ohnehin wollten. Diese Veränderung zeigt, wie komplex die Antwort auf die Frage ist, wer für den Tod Jesu verantwortlich ist. Damit entfernt sich das Passionsspiel von der Anschuldigung, die Juden seien die Christusmörder. Darunter haben wir jahrhundertelang gelitten.
Wie erklären Sie sich, dass es innerhalb Deutschlands kaum öffentlich geäußerte jüdische Kritik an den Passionsspielen gibt?
Amerikanische Juden sind oft führend gewesen im interreligiösen Dialog. Viele der Veränderungen im Verhältnis zwischen Juden und Christen entspringen den Gesprächen zwischen amerikanischen Juden und ihren christlichen Partnern. Wir haben eine Menge investiert in diese Neuerungen. Deshalb sind wir sehr empfindlich.
Sie werden das Spiel am Donnerstag in einer Voraufführung sehen, gemeinsam mit 15 jungen amerikanischen Juden und einer Gruppe junger Katholiken aus Deutschland. Was versprechen Sie sich davon?
Ich glaube, das ist eine starke Erfahrung für diese Generation. Sie braucht die Herausforderung des interreligiösen Dialogs. Er ist ihnen nicht so vertraut wie ihren Eltern und Großeltern, die Standards dafür schaffen mussten, wie Juden und Christen miteinander reden. Ich bin sehr gespannt auf ihre Reaktionen. Vielleicht ist es der Anfang von etwas Neuem. Oder es ist das Ende ihres Engagements für den jüdisch-christlichen Dialog.
Mit dem stellvertretenden Direktor für interreligiöse Beziehungen des American Jewish Committee sprach Tobias Kühn.