Vor einem Jahr wurde Zsolt Balla in das Amt des Militärbundesrabbiners eingeführt. Die Einrichtung der jüdischen Militärseelsorge galt als historisches Ereignis vor allem mit Blick auf die Schoa. Feldrabbiner hatte es zuletzt im Ersten Weltkrieg gegeben. Balla ist zugleich Leipziger Gemeinderabbiner, sächsischer Landesrabbiner und im Vorstand der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland tätig. Im Interview zieht Balla die Bilanz eines Amtsjahres, äußert sich zu einer möglichen muslimischen Seelsorge in der Bundeswehr und blickt auf die Kontroverse um Waffenlieferungen für die Ukraine.
Herr Rabbiner Balla, vor einem Jahr, am 21. Juni, sind Sie in Ihr Amt als Militärbundesrabbiner eingeführt worden. Sie sagten damals, Sie spürten ein großes Gewicht auf Ihren Schultern. Ist dieses Gewicht inzwischen leichter geworden?
Ich hoffe, dass dieses Gewicht eben nicht leichter wird, denn die Einführung des Militärrabbinats ist schon eine große historische Veränderung. Jederzeit möchte ich diese Verantwortung auf meinen Schultern spüren, so dass ich die Aufgabe richtig erfüllen kann.
Wie sieht Ihre Bilanz nach einem Jahr im Amt aus?
Dieses Jahr war unglaublich spannend. Ich habe eine neue Welt kennengelernt. Ich wusste natürlich, was mich erwartet. Aber ich habe aus erster Hand die Welt der Bundeswehr und der Bündnisverteidigung kennengelernt. Ich hatte auch schon vorher eine große Verbindung zu Soldaten, die jetzt ein neues Niveau erreicht hat. Ansonsten ist es uns gelungen, beim Personal und bei der Organisation ein Fundament fürs Militärrabbinat zu legen und wichtige Arbeitsvoraussetzungen vor allem für unsere Militärrabbiner zu schaffen.
Welche Ziele haben Sie in diesem Jahr erreicht, und was sind die Themen, die Sie künftig anpacken wollen?
Eines der wichtigsten Ziele war, die jüdische Militärseelsorge sichtbar zu machen und für Soldaten da zu sein. Da haben wir bereits manches erreicht - wir haben Rosch Haschana, Sukkot und Purim in einem kleinen Kreis gefeiert und dabei Kontakte geknüpft und vertieft. Wie wir umfassendere Veranstaltungen anbieten können, die für unsere jüdischen Soldaten auch bezahlbar sind, ist aber noch eine große Herausforderung. Wir haben mit einem regelmäßigen gemeinsamen jüdischen Lernen mit jüdischen und nichtjüdischen Soldaten angefangen. Zurzeit arbeiten die Kollegen im Rabbinat insbesondere an der Einarbeitung der Militärrabbiner und Rabbinatshelfer. Zudem wollen wir für die Soldaten für den Grundbetrieb und die Auslandseinsätze koschere Verpflegung sicherstellen.
Es hieß, dass es bis zu zehn Militärrabbiner geben soll.
Wir sind auf dem richtigen Weg für eine gute Auswahl. Wir hatten jetzt die nächste Runde an Vorstellungsgesprächen für geeignete Rabbiner für unsere Standorte in Hamburg, Köln und München. Ich hoffe, dass ich darüber demnächst detaillierter berichten kann.
Wie viele Rabbiner stehen Ihnen denn momentan schon zur Seite?
Es gibt bereits einen Militärrabbiner in München.
Sie selbst sind orthodox. Es war ja geplant, dass unter Ihren künftigen Kollegen auch andere religiöse Strömungen des Judentums vertreten sein sollen.
Genau, das ist bereits der Fall. Der Rabbiner in München ist nichtorthodox.
Es gibt immer mal wieder Meldungen über Antisemitismus unter Soldaten. Sind Sie damit schon konfrontiert worden?
Ich persönlich habe bisher keinen Antisemitismus in der Bundeswehr erlebt und wurde sehr positiv aufgenommen. Aber es ist natürlich ein ernstzunehmendes Problem.
Die jüdischen Militärseelsorger sollen auch den lebenskundlichen Unterricht für die Soldaten mitgestalten und wollen dabei präventiv gegen Antisemitismus vorgehen. Können Sie da schon aus der Praxis berichten?
Wir haben im lebenskundlichen Unterricht bereits die jüdische Perspektive zu Demokratie und Freiheit mit Soldaten diskutiert und verdeutlicht, wie Vielfalt und Pluralismus im jüdischen Recht verankert sind. Das Interesse war bei diesen Veranstaltungen sehr groß. Ich selbst erteile diesen Unterricht allerdings nicht, das ist ähnlich wie bei den Militärbischöfen.
Zu Ihrem Dienstbeginn sagten Sie der Katholischen Nachrichtenagentur, dass die Bundeswehr ein Spiegel der Gesellschaft sein solle. Daher würden die jüdischen Militärseelsorger zum einen eine neue Perspektive einbringen und zum anderen möglicherweise dazu beitragen, dass sich vermehrt auch Juden dazu entschließen könnten, Soldaten zu werden. Haben Sie schon entsprechende Signale wahrgenommen?
Wir verstehen uns nicht als Recruiting-Beauftragte. Die Verantwortung, die Soldaten tragen, ist durch mein Amt aber schon sichtbarer geworden, auch in der jüdischen Gemeinschaft. Das ist meine persönliche Erfahrung. Junge Leute stellen sehr interessierte Fragen, zum Beispiel, ob es eine Karriereoption ist, in die Bundeswehr zu gehen. Diese Richtung ist schon einmal sehr gut. Ich bin überzeugt, dass wir die Früchte in ein paar Jahren sehen werden, insbesondere, wenn wir sicherstellen können, dass für jüdische Soldaten der Dienst mit der Religionsausübung vereinbar ist.
Die jüdischen Militärseelsorger verstehen sich auch als Ansprechpartner für nichtjüdische Soldaten.
Richtig. Wir sind für jeden einzelnen Soldaten da, wenn er es wünscht.
Es gibt immer wieder Forderungen nach einer muslimischen Militärseelsorge. Auch Sie haben sich dafür ausgesprochen.
Ich denke, jeder Soldat sollte die Möglichkeit haben, seine Religion im Rahmen seines Dienstes auszuüben.
Sie sprachen schon die christlichen Militärseelsorger an. Wie lässt sich die Zusammenarbeit mit ihnen an? Gemeinsam haben Sie zum Beispiel vor dem Hintergrund des Ukrainekrieges dazu aufgerufen, die europäische Friedensordnung zu verteidigen.
Richtig. Ich bin sehr glücklich, was die Zusammenarbeit mit dem katholischen und dem evangelischen Militärbischof angeht. Ich schätze ihre Arbeit sehr, und ich bin froh, mit ihnen zusammenzuarbeiten.
Lassen Sie uns noch auf die Kontroverse in Deutschland über Waffenlieferungen an die von Russland angegriffene Ukraine schauen. Wie blicken Sie auf diese Debatte, können Sie beide Seiten verstehen?
Ich habe vor einiger Zeit einen Artikel in der Jüdischen Allgemeinen darüber geschrieben, wie wir auf diese Situation blicken, und einen guten Freund, Rabbiner Gabor Lengyel aus Hannover, zitiert: Er erinnert daran, dass das »Nie Wieder« für Nichtjuden »Nie wieder Krieg« bedeutet. Die jüdische Sicht auf das »Nie wieder« ist jedoch eine andere, nämlich »Nie wieder Vernichtung, nie wieder Völkermord, nie wieder Auschwitz«. Die angegriffene Bevölkerung in der Ukraine muss geschützt werden - aber die Frage, wie das am besten geht, überlasse ich der Politik.
Die Fragen stellte Leticia Witte.