Interview

»Wir müssen Zeichen setzen«

»Die Gesellschaft benötigt den Fußball mindestens so sehr, wie der Fußball die Gesellschaft braucht«: Hans-Joachim Watzke Foto: dpa

Herr Watzke, der 9. November ist ein besonderes Datum der deutschen Geschichte. Was bedeutet dieser Tag für Sie?
Zum einen denke ich an 30 Jahre Mauerfall: Der 9. November 1989 war ein ganz außergewöhnlicher Tag, den ich selbst miterlebt habe. Und dann denke ich an die Pogromnacht des 9. November 1938. Manche sprechen von Reichskristallnacht, aber diese Bezeichnung hat mich immer gestört. Ich bin 1959 geboren, und mich beschäftigte das schon als Kind. Mit meinen Großeltern habe ich viel über die Pogromnacht gesprochen, das hat einen erschaudern lassen.

Sie bezeichnen sich selbst als politischen Menschen, sind bereits seit Ihrer Jugend Mitglied der CDU und wollten sogar in die große Politik einsteigen. Wie sehen Sie die Situation im vereinten Deutschland, 30 Jahre nach dem Mauerfall?
Die Deutschen neigen zur Unzufriedenheit. Und diese historische und heroische Leistung, einen solchen Wandel ohne Blutvergießen hinbekommen zu haben, das ist schon außergewöhnlich. Darüber sollten wir uns viel öfter Gedanken machen. Es war sicherlich auch ein bisschen Glück dabei. Aber am Ende des Tages hat es funktioniert. Und was dann, bei allem Murren, innerhalb von 30 Jahren geschaffen wurde, auch mit gigantischen Transferleistungen von West nach Ost, das ist eine Leistung, auf die wir Deutsche sehr stolz sein sollten. Ich weiß nicht, wie viele Länder das so hinbekommen hätten. Auch, wenn Helmut Kohl mit seinem Verweis auf die »blühenden Landschaften« oft kritisiert wurde: Wenn ich heute durch Ostdeutschland fahre, und ich bin dort relativ häufig, dann sehe ich an manchen Orten mehr blühende Landschaften als in einigen Regionen des Westens. Die Einheit ist eine absolute Erfolgsgeschichte. Wir Deutsche sind eben nicht die gelassensten Bürger der Welt. Doch ich glaube: Am Ende des Tages sollten wir mit der Entwicklung und der aktuellen Situation zufrieden sein.

Bereiten Ihnen der Zustand der Gesellschaft und die zunehmende Gewalt von Rechtsextremisten Sorgen?
Selbstverständlich. Da müssen wir uns dringend Gedanken machen. Der BVB unter Führung von Präsident Reinhard Rauball, er ist SPD-Mitglied, und mir als CDU-Mitglied ist sehr politisch. Aber wir legen großen Wert auf die Feststellung, dass wir nicht parteipolitisch sind. Wir wollen auch alle Fans unter das Dach der BVB-Familie bringen. Der Verein hat 158.000 Mitglieder und als einer der ersten in der Bundesliga in seiner Satzung festgelegt, dass nur derjenige Mitglied werden und auch bleiben kann, der sich auf dem Boden der demokratischen Verfassung befindet. Wir haben bereits Vereinsausschlüsse durchgezogen, was aber immer mit entsprechenden juristischen Hürden verbunden ist. Und wir dürfen nicht stets nur mit dem Finger auf den Osten zeigen, dieses Phänomen haben wir auch im Ruhrgebiet. Da müssen wir aufpassen.

Wie betrachten Sie die Wahlerfolge der AfD?
Die letzten Landtagswahlen haben einen erheblichen Zuwachs an Wählerstimmen für die AfD gebracht. Aber ich bin weit davon entfernt, diese Wähler zu beschimpfen. Denn wenn man sich die Staatsräson der CDU ansieht, wonach man rechts von ihr nichts demokratisch Legitimiertes zulassen darf, dann muss man feststellen: Das hat die Union nicht hinbekommen. Das muss man leider sagen. Da ist es die Pflicht aller Demokraten und der alten Parteien – darunter die SPD, die in Deutschland die älteste demokratische Kultur hat und ganz häufig in der Geschichte auf der richtigen Seite stand –, dafür zu sorgen, dass AfD-Wähler nicht beschimpft, sondern überzeugt werden, dass es sich lohnt, jene Parteien zu wählen, die uns in den vergangenen Jahrzehnten Freiheit, Frieden und wirtschaftlichen Wohlstand gebracht haben. Und dafür liefert das politische Personal der AfD in Taten und verbalen Entgleisungen eine ganze Menge Argumente. Aber nur auf den Wähler einzudreschen, das ist zu billig. Der Auftrag muss lauten, dass wir um diese Menschen kämpfen.

Sie betonen die integrative Funktion und gesellschaftliche Aufgabe des Fußballs. In Ihrem Buch ist sogar vom BVB als Volkspartei in Nordrhein-Westfalen die Rede. Wie ist das zu verstehen?
Wir können eine ganze Menge bewegen, in Dortmund, in Nordrhein-Westfalen und in Deutschland insgesamt. Das entscheidende Argument, warum der Fußball für unsere Gesellschaft wichtig ist, ist doch die Tatsache, dass unserer Gesellschaft die gemeinsamen Themen ausgehen. Wir erleben eine zunehmende Individualisierung und Entsolidarisierung. Kirchen, Parteien und Gewerkschaften haben dramatisch an Zustimmung eingebüßt. Doch am Fußball sind die obersten und die untersten zehn Prozent der Gesellschaft gleichermaßen interessiert. Dort erleben sie gemeinschaftsstiftende Momente, die aus meiner Sicht in unserem Land auf anderem Wege leider nur noch selten entstehen. Deshalb benötigt die Gesellschaft den Fußball mindestens so sehr, wie der Fußball die Gesellschaft braucht.

Inwiefern?
Der BVB hat mit seiner großen Strahlkraft die Möglichkeit, für ein friedliches Miteinander einzutreten und gegen jede Form von Rassismus zu werben. Das sind die Themen, die uns umtreiben. Und die sind bei den Parteien, die staatstragend sind, unumstritten. Wir können auch Integration fördern, ohne aber in diese typische geistige Grundhaltung zu verfallen, die im linken Lager oft anzutreffen ist, dass Integration per se gut ist. Davon sind wir weit entfernt. Denn wir sehen im Ruhrgebiet die Probleme. Bei integrationswilligen und leistungsbereiten Menschen, die Hilfe brauchen, ist doch jeder selbstverständlich bereit, sie zu unterstützen. Aber man muss auch erkennen, dass das manchmal nicht der Fall ist. Und wenn man diese Wahrheiten anspricht, ist ja schon eine Menge getan. Wir bieten eine ganze Menge in diesem Bereich an, weil wir schon vor Jahren erkannt haben, dass das Problem des Antisemitismus größer wird. Davon musste man eigentlich ausgehen, wenn man einen klaren und rationalen Blick auf die Gesellschaft hat. Mich hat es verwundert, dass lange Zeit versucht wurde, das Thema kleinzureden. Auf der einen Seite hat es das Erstarken der Rechtsnationalen gegeben. Mit ihnen wurde das Klima schon einmal aggressiver. Dann hat sich die Bevölkerungsstruktur geändert. Es sind viele Menschen ins Land gekommen, die sich nicht unbedingt als Freunde des jüdischen Volkes verstehen. Das haben wir als BVB schon vor einigen Jahren erkannt und gesagt, dass wir uns verstärkt darum kümmern müssen.

Wie kann das geschehen?
Wir haben Mitarbeiter, die sich speziell diesen gesellschaftsrelevanten Themen widmen. Beispielsweise organisieren sie seit 2011 jährliche Studienreisen nach Auschwitz. Wir zeichnen auf unseren Workshop-Reisen auch den Weg der Deportationen von Dortmunder Juden und deren Geschichten nach. Das sind Angebote für Fans, aber auch für Mitarbeiter und Sponsoren des Vereins. Ich meine, dass man sich als Fußballklub nicht nur darüber definieren sollte, Tore zu schießen oder abzuwehren. Es ist auch wichtig, dass man sich mitten in der Gesellschaft präsentiert. Und es ist nötig, für Toleranz zu werben, gegen Geschichtsvergessenheit zu arbeiten und ein klares Signal gegen antisemitische Tendenzen zu senden. Um in diesem Sinne auch ein deutliches Zeichen zu setzen, haben wir im vergangenen Jahr eine Million Euro an Yad Vashem gespendet. Das ist für einen börsennotierten Mittelständler wie Borussia Dortmund kein Pappenstiel. Aber wir haben es aus tiefer Überzeugung getan. Auch Daimler, Deutsche Bahn, Deutsche Bank und Volkswagen haben sich mit jeweils einer Million beteiligt. Das Geld wird für das im Bau befindliche Haus der Sammlungen der Gedenkstätte verwendet, in dem Objekte aus der Zeit des Holocaust erforscht, restauriert und aufbewahrt werden sollen.

Sie waren zur Grundsteinlegung des Erweiterungsbaus im Mai dieses Jahres persönlich nach Jerusalem gereist.
Ich habe selten so etwas Bewegendes und Prägendes erlebt wie den Besuch in Yad Vashem und unseren Aufenthalt in Israel, für den wir uns fünf Tage Zeit genommen haben. In der Holocaust-Gedenkstätte haben wir mit Überlebenden gesprochen. Und bei einem Rundgang im Tal der Gemeinden habe ich dort einen Stein entdeckt, der den Namen meiner Heimatstadt Marsberg trägt und an die große jüdische Gemeinde erinnern soll, die es dort einst gab. Das war sehr bewegend – ebenso wie die Teilnahme an der Auftaktveranstaltung zum Jom Haschoa. Bei dieser Gelegenheit und auch in den Tagen danach habe ich erfahren, wie die Israelis ihre Demokratie über alle parteipolitischen Grenzen hinweg wertschätzen. Und welche Wertschätzung auch die Ordnungskräfte – Polizei und Militär – erfahren. Ich war als junger Mann vom Sechstagekrieg und dem Jom-Kippur-Krieg geprägt und zeitlebens immer ein großer Freund Israels.

Und Sie haben in Israel auch BVB-Fans getroffen.
Ja, wir haben in Jerusalem den Fanklub »Israelische Borussen« besucht. Und wir haben außerdem große Fanklubs in Tel Aviv. Auch das waren sehr beeindruckende Begegnungen.

Zurück nach Deutschland: Hier ist »Jude« ein Schimpfwort im Fußball. Im Frankfurter Waldstadion wurde ein israelischer Schiedsrichter als »Drecksjude« beleidigt. Wie ist das Phänomen zu erklären?
Wir haben dafür alle Sinne geschärft, auch wenn ich selbst derlei noch nie mitbekommen habe. Der BVB ist mit seinen Spielern und Mitarbeitern nicht einmal im Ansatz antisemitisch. Aber dass gelegentlich rassistische Sprüche im Stadion zu hören sind, lässt sich leider nicht verhindern. Wir werden weiter dagegen ankämpfen!

2016 gab es Berichte über judenfeindliche Gesänge im BVB-Fanzug zum Pokalfinale. Wie begegnen Sie derartigen Vorfällen?
Wir schulen unser Ordnungspersonal, damit es gleich erkennt, wenn Besucher solche Parolen rufen oder mit rechten Symbolen versuchen, ins Stadion zu kommen. Wir haben die Sensibilität dafür bereits erhöht. Das ist auch ein Herzensanliegen. Wer durch antisemitische Parolen auffällt und überführt werden kann, wird durch uns konsequent ausgegrenzt.

Doch es lässt sich nicht verhindern?
Gehen wir davon aus, dass der Fußball und die Gesellschaft sich spiegelbildlich gegenüberstehen. Wenn es in einer Kommune zwei Prozent rechtsradikale Wähler gibt, dann hört sich das nicht so viel an. Wenn sich diese Wählerschaft dann aber auch im Stadion bemerkbar macht – und zwei Prozent von 80.000 sind dann schon 1600 –, macht das schon einen ganz anderen Eindruck. Es hört sich mehr an, es sind aber auch nur diese zwei Prozent. Und es zeigt, dass man so etwas vielleicht nicht komplett verhindern kann. Beim BVB gibt es eine ganz bestimmte Dynamik auf der Südtribüne, sodass das sofort zu Reaktionen führen würde und die anderen Fans das unterbinden würden. Ich weiß nicht, ob das auch anderswo so ist. Ich habe aber nicht den Eindruck, dass es im Fußball dramatisch mehr geworden ist. Es ist so wie in der Gesellschaft, vielleicht sogar etwas weniger. Aber wir sind wachsam, das ist klar.

Dortmund gilt im Ruhrgebiet als Hochburg der Neonazis, im Stadtteil Dorstfeld gibt es gefestigte rechtsextreme Strukturen. Wie erleben Sie das?
Ich glaube nicht, dass diese Typen das öffentliche Bild der Stadt prägen. Aber dass deren regelmäßige Kundgebungen genehmigt werden, ist eigentlich unerträglich. Wir haben als Klub gerade erst wieder dazu aufgerufen, dagegen zu demonstrieren. Diesem Appell sind sehr viele Fans gefolgt. Aber das ist Segen und Fluch der Demokratie: Wenn man viel Meinungsfreiheit zulässt, muss man auch mit so etwas rechnen. Leider. Da muss die Zivilgesellschaft Farbe bekennen. Und daran mangelte es in den vergangenen Jahren. Polizei und Justiz müssen hier klare Kante zeigen. Ich habe den Eindruck, dass speziell die Landesregierung in NRW das Problem erkannt hat und in diesem Punkt inzwischen mit einer besonderen Dynamik und ganz anderen Härte reagiert. Ich hoffe, dass die Justiz das in ähnlicher Weise tut. Wir haben Gewaltenteilung, darauf können wir stolz sein. Als demokratische Gesellschaft muss man auch etwas aushalten können. Aber es darf nie infrage stehen, dass man geltendes Recht mit aller Konsequenz durchsetzt.

Zum Abschluss nochmals die Frage: Was geht Ihnen angesichts dieser Entwicklungen – auch mit Blick auf den 9. November – durch den Kopf?
Ich bin jemand, der sich schwertut, so etwas in einen Satz zu packen: Aber ich denke, dass man sich immer wieder vor Augen führen muss, wozu Menschen fähig sind, wenn sie glauben, dass der Staat ihnen nicht mehr mit aller Macht entgegentritt. Das ist der entscheidende Punkt. Wenn der Rechtsstaat nur einen Millimeter Platz lässt, dann dauert es überall auf der Welt nicht lange, bis Schreckliches passieren kann. Als liberale Demokratie müssen wir hier ganz klar Flagge zeigen!

Das Gespräch mit dem Geschäftsführer des BVB Dortmund führte Detlef David Kauschke. Kürzlich ist bei C. Bertelsmann das Buch »Echte Liebe« von Hans-Joachim Watzke und Michael Horeni erschienen.

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