Christian Lindners Tage sind lang. Der FDP-Chef ist täglich oft 15 Stunden unterwegs, um für das Überleben seiner Partei zu kämpfen, die laut Umfragen gerade unter fünf Prozent liegt und damit den Einzug in den Bundestag verpassen würde. Lindner nutzt deshalb jede Minute, schaltet sich zwischen zwei Terminen von der Rückbank seines Dienstwagens ins digitale Interview mit der Jüdischen Allgemeinen.
Herr Lindner, Wolfgang Kubicki hat bei der Abstimmung zum Migrationsantrag der CDU im Bundestag gesagt: »Mir doch Latte, wer da noch zustimmt.« Fanden Sie die Wortwahl angemessen?
Wolfgang Kubicki ist Wolfgang Kubicki. In der Sache brauchen wir in Deutschland einen Schulterschluss der Parteien der Mitte, damit wir die Weltoffenheit, Vielfalt und Toleranz unseres Landes durch mehr Kontrolle und Sicherheit gewährleisten. Wir erleben steigende Kriminalität, Gewalt und leider auch importierten Antisemitismus. Und deshalb müssen wir mit rechtsstaatlichen Mitteln die Kontrolle des Zugangs nach Deutschland wiederherstellen. Sonst spielen wir den Rechtspopulisten in die Karten.
Die Abstimmung mit der AfD war für Sie kein Schulterschluss?
Nein, Inhalten einer demokratischen Fraktion wie der Union, die Positionen vorschlägt, die beispielsweise auch die Länder und die FDP seit Langem fordern, kann man zustimmen. Die eigentliche Frage ist doch: Warum haben Grüne und SPD nicht zugestimmt? Wir haben als Freie Demokraten intensive Anstrengungen unternommen, um Sozialdemokraten und Grüne zu einem gemeinsamen Votum zu überzeugen. Es ist insbesondere an den Grünen gescheitert, weil sie unverändert den Familiennachzug nicht begrenzen, sondern sogar ausweiten wollen.
Nach der Wahl von Thomas Kemmerich zum thüringischen Ministerpräsidenten im Jahr 2020 haben Sie geschworen, dass es »niemals eine systematische oder auch nur unfallartig zustande gekommene Zusammenarbeit mit der AfD« geben wird. Was hat sich in den letzten fünf Jahren an Ihrer Haltung geändert?
Gar nichts. Wir haben ja einem Antrag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zugestimmt.
Bei dem abzusehen war, dass er nur mit Stimmen der AfD eine Mehrheit bekommen wird.
Das richtige Anliegen wird nicht dadurch schlechter, dass die Falschen zustimmen. Ich werde mein Votum nicht davon abhängig machen, sonst gebe ich denen ja Macht über mich.
Mehrere Schoa-Überlebende wie Albrecht Weinberg haben davor gewarnt, mit der AfD abzustimmen. Was denken Sie darüber?
Das macht mich natürlich betroffen. In Deutschland müssen wir dafür sorgen, dass jüdisches Leben bestmöglich geschützt ist und in jeder Hinsicht zu unserer Normalität gehört. Die notwendigen Schutzmaßnahmen zeigen leider, dass wir noch weit von dieser Normalität entfernt sind. Daraus leite ich politisch ab, dass wir die Migration in Deutschland ordnen und die AfD klein machen müssen. Wir müssen uns auch all denjenigen entgegenstellen, die im Gewand der sogenannten »Israelkritik« in Wahrheit antisemitische Ressentiments verbreiten und in vermeintlicher Solidarität mit Palästinensern offenen Judenhass und die Unterstützung terroristischer Organisationen propagieren.
Warum sollten bürgerliche Wähler, die die AfD 2029 verhindern wollen, jetzt die FDP wählen und nicht die CDU?
Wenn die nächste Regierung die wesentlichen Probleme nicht löst, kann es eine autoritäre Wende wie in den USA, Österreich oder den Niederlanden geben. Deshalb muss die Demokratie in den nächsten vier Jahren liefern. Da kann die FDP im Gegensatz zu einer schwarz-grünen oder schwarz-roten Koalition einen wichtigen Beitrag leisten, die wesentlichen Dinge, etwa eine Wirtschafts- und eine Migrationswende voranzubringen.
Während der Ampelkoalition ist die Zustimmung zur AfD stark gestiegen. Welchen Anteil hat die FDP daran?
Die Gründe für den Aufschwung der AfD liegen in der wirtschaftlichen Stagnation, der Weigerung, die Migration nach Deutschland zu begrenzen, und dem Gefühl der Bürgerinnen und Bürger, bevormundet zu werden, insbesondere beim Heizungschaos, das die Folge grüner Ideologie war. Ich bin deshalb für eine Doppelstrategie: Erstens müssen wir uns von der AfD als einer in jeder Hinsicht antiliberalen Partei absolut abgrenzen, und zweitens müssen wir die Probleme lösen, die diese Partei groß gemacht haben. Deshalb hat die FDP auf ihrem Parteitag ausgeschlossen, auf Bundesebene eine Koalition mit den Grünen zu bilden. Denn die Unzufriedenheit im Land hängt auch damit zusammen, dass wir bestimmte Problemlösungen mit den Grünen nicht verabreden konnten. Wir setzen deshalb auf eine schwarz-gelbe Koalition oder, sofern nötig, auf eine schwarz-rot-gelbe Koalition.
Die Grünen haben auch die Außenministerin gestellt. Was hätte die FDP in puncto Israel anders gemacht, wenn sie das Auswärtige Amt übernommen hätte?
Auch wenn wir nicht den Außenminister gestellt haben, haben wir uns bis heute darum bemüht, dass Israel so behandelt wird wie ein NATO-Verbündeter, also bei militärischen Unterstützungsleistungen schneller und unbürokratischer auf Deutschland bauen kann. Ein weiteres zentrales Anliegen meiner Fraktion ist es, die Verwendung der Haushaltsgelder zu konditionieren, damit keinerlei Antisemitismus und Judenhass mit deutschen Steuergeldern finanziert wird. Meine Fraktion hat unmittelbar nach dem 7. Oktober 2023 ein Positionspapier zur Verwendung deutscher Finanzmittel in den Palästinensischen Gebieten beschlossen, da gelten muss: Kein Cent Steuergeld für Terrorismus! Und wir drängen auf die Anwendung des betreffenden Paragrafen 8a, der auf unsere Initiative ins Haushaltsgesetz aufgenommen wurde. Damit dürfte kein Geld mehr an die UNRWA fließen. Dass SPD und Grüne trotz der vielfachen Hinweise auf eine Unterwanderung der UNRWA durch die Hamas keine Konsequenzen gezogen haben, ist unverantwortlich.
Ein stilles Waffenembargo hätte es mit Ihnen also auch nicht gegeben?
Nein.
Würde sich Deutschland bei israelfeindlichen UN Resolutionen weiter enthalten?
Nein. An vielen Stellen zeigt sich bei den Vereinten Nationen leider eine massive Einseitigkeit gegenüber Israel, so auch bei den Resolutionen. Kein Staat der Welt wird so häufig wie Israel verurteilt. Das sollten wir nicht mittragen. FDP-Minister hatten sich übrigens früher bereits für ein Nein ausgesprochen, während Grüne und SPD zustimmen wollten, so kam es auch zu Enthaltungen. Ohne die FDP in der Bundesregierung hätten SPD und Grüne dann mit Ja gestimmt. Meine Fraktion hat schon 2019 im Bundestag auf das unsägliche Abstimmungsverhalten hingewiesen und mit einem Antrag zu Änderungen aufgerufen.
Würde die FDP in Koalitionsverhandlungen das Finanzministerium auch auf Kosten des Auswärtigen Amtes wieder anstreben?
Das Finanzministerium trägt große internationale Verantwortung, es ist beispielsweise für die sogenannte Wiedergutmachung – ich mag das Wort eigentlich nicht, weil es schlecht gealtert ist – zuständig. Es spielt also für die Opfer der Schoa eine wichtige Rolle und wird auch in Zukunft eine wichtige Rolle spielen, wenn das, was früher Wiedergutmachung hieß, in Holocaust Education übergehen wird. Es war mir in meiner Amtszeit ein Anliegen, Initiativen dazu zu ergreifen und ist für mich auch eine Motivation, in das Haus zurückzukehren.
Während Ihrer Amtszeit wurde auch im Finanzministerium über Renten für Schoa-Überlebende verhandelt. Bei den Gesprächen mit der Claims Conference wurde so scharf auf die Kosten geachtet, dass sich sogar der ehemalige US-Außenminister Anthony Blinken und der ehemalige britische Premierminister Rishi Sunak berufen fühlten, Ihnen zu schreiben. Bereuen Sie, wie die Verhandlungen damals gelaufen sind?
Vielleicht sollten Sie einmal die Jewish Claims Konferenz fragen, wie meine Amtszeit als Finanzminister bewertet wird. Ich bin vermutlich zu bescheiden, das selbst zu sagen.
Die kritische Intervention aus dem Ausland bleibt davon aber unberührt.
Ich habe den Eindruck, dass meine Amtszeit und alle getroffenen Vereinbarungen zur Unterstützung der Schoa-Überlebenden bei der Claims Conference auf große Anerkennung gestoßen sind. Jedenfalls wurde mir öffentlich regelmäßig sehr gedankt für die Art und Weise, wie die Bundesrepublik Deutschland sich mit der Claims Conference geeinigt hat. In den Jahrzehnten zuvor hat es niemals eine solche Stetigkeit und nach vorn gerichtete Verabredung gegeben, die auch über mehrere Jahre Wirkungskraft hatte.
Der Leiter der Gedenkstätte Buchenwald, Jens-Christian Wagner, warnt davor, Besuche von Holocaust-Gedenkstätten zur Pflicht zu machen, weil das bei den Teilnehmern zu einer Abwehrreaktion führen könnte. Warum fordert die FDP dennoch Pflichtbesuche?
Es ist wichtig, dass jeder junge Mensch Gedenkstätten besucht und sieht, wozu Judenhass führen kann. Ebenso wichtig ist auch der Austausch mit jungen Jüdinnen und Juden aus der ganzen Welt, insbesondere aus Israel. Ein intensiverer Jugendaustausch zwischen Deutschland und Israel wäre mir ein ganz wichtiges Anliegen.
Die FDP fordert, beim Kampf gegen Antisemitismus Strafbarkeitslücken zu schließen. Welche sehen Sie da?
Beispielsweise müssen wir uns Aufrufen zum Boykott Israels oder gar zur Vernichtung des jüdischen Staates noch deutlicher entgegenstellen. Hierzu werden konkrete Vorschläge diskutiert, wie bestehende Lücken im Strafrecht geschlossen werden könnten. Hier sind der neue Bundestag und die neue Bundesregierung gefordert.
Mit dem Bundesvorsitzenden der FDP sprach Nils Kottmann. Für die Interview-Reihe der Jüdischen Allgemeinen zur Bundestagswahl wurden alle relevanten demokratischen Parteien angefragt.