Ist sie wieder da, die Leitkulturdebatte, die von vielen schon vor 15 Jahren als Leidkulturdebatte abgestempelt wurde? Es wäre naiv zu denken, dass die Hunderttausende neuer Deutscher, die aus Syrien und dem Irak, aus Afghanistan und Somalia kommen, sich über Nacht zu den Grundwerten ihrer neuen Heimat bekennen würden.
SPD-Chef Sigmar Gabriel meinte daher ganz zu Recht: »Natürlich wird vielen Flüchtlingen unsere Kultur und unsere Art des Zusammenlebens fremd sein. Wir brauchen deshalb nicht nur Sprachdolmetscher, sondern auch Kulturdolmetscher. Viele Bürger unseres Landes haben selbst eine Erfahrung als Zuwanderer. Sie können jetzt als Kulturdolmetscher eine wichtige Hilfe sein und Brücken bauen.«
Herausforderung Nun denn – aufgerufen sind alle selbst Zugewanderten. Die jüdische Gemeinschaft ist vor eine besonders große Herausforderung gestellt. Die große Mehrzahl ist selbst erst vor Kurzem eingewandert – sie sind also Gabriel gemäß die idealen Kulturdolmetscher. Dabei liegt schon eine gewisse Ironie in der Tatsache, dass ausgerechnet die Juden, die in den Herkunftsländern der Flüchtlinge oft verteufelt werden, nun zu den Integrationshelfern in der neuen Heimat werden sollen. Zudem ist es nicht allzu lange her, dass auch hierzulande die Juden nicht unbedingt als Träger der deutschen Leitkultur betrachtet wurden.
Ich erinnere mich noch gut an meine früheste Begegnung mit dem, was deutsche Leitkultur in den frühen 70er-Jahren bedeutete. An meinem ersten Schultag wurde ich zum einen vertraut mit dem schönen deutschen Brauch, eine prall mit Süßigkeiten gefüllte Schultüte entleeren zu dürfen. Die Frage, die mich an diesem Tag wohl am meisten beschäftigte, war: Schokolade oder Bonbons? Unsere junge Klassenlehrerin in der bayerischen Provinzstadt freilich brachte mich mit einer ganz anderen Frage in ziemliche Verlegenheit.
Gleich in der ersten Stunde stellte sie uns vor die recht eindeutig formulierte Alternative: »Wer von euch ist katholisch, wer evangelisch?« Ich blieb während der nächsten 13 Jahre der einzige jüdische Schüler in meiner Schule, wenngleich ich korrekterweise anmerken sollte, nicht der einzige Jude im Klassenzimmer – der andere hing wie in jeder guten bayerischen Schule selbstverständlich am Kruzifix vor unser aller Augen. Dieses gehört im Übrigen weiterhin zur bayerischen Leitkultur.
Worthülse Während der ersten Leitkulturdebatte vor 15 Jahren war häufig vom »christlich-jüdischen Abendland« die Rede – ein Begriff, der vor allem eines bezweckte: die muslimischen Deutschen aus der Leitkultur auszuschließen. Aber machen wir uns nichts vor: Das christlich-jüdische Abendland existiert nur als leere Worthülse. Zwar würde sich heute selbst in der bayerischen Provinz wohl keine Lehrerin mehr trauen, nur nach Katholiken und Protestanten zu fragen.
Doch sind Juden in Deutschland weiterhin Exoten. Wir mögen mittlerweile nicht mehr 0,05 Prozent der Bevölkerung, sondern stolze 0,2 Prozent der Bevölkerung ausmachen, doch jeder kennt das verlegene Lächeln, wenn das Gegenüber zum ersten Mal einem Juden gegenübersteht. Und wer wünscht im Dezember »Frohe Feiertage« statt »Frohe Weihnachten«, wie es in den USA längst üblich ist? Weiß irgendjemand unserer Arbeitskollegen, wann unser neues Jahr beginnt? Es gibt keine christlich-jüdische Leitkultur in Europa, sondern eine christliche Leitkultur, und die erstreckt sich auch auf diejenigen, deren Eltern und Großeltern bereits die Kirche verlassen hatten.
Wenn aber die neue Leitkulturdebatte nicht mehr mit dem problematischen Begriff des christlich-jüdischen Abendlands jongliert, sondern wie Bundespräsident Gauck von den Flüchtlingen einfach die Achtung demokratischer Grundwerte fordert, oder wenn Grünen-Politiker Cem Özdemir erklärt: »Meine Leitkultur ist unser Grundgesetz. Da steht zwar nicht drin, wie man sich fürs Oktoberfest zu kleiden hat. Aber ansonsten alles, was wichtig ist für unser Zusammenleben« – dann sollen wir uns auch angesprochen fühlen.
Moderne Und uns daran erinnern, dass es mit Bassam Tibi ein Deutscher syrischer Herkunft war, der vor 15 Jahren mit einer vernünftigen Formel die Leitkultur definierte: »Die Werte für die erwünschte Leitkultur müssen der kulturellen Moderne entspringen, und sie heißen: Demokratie, Laizismus, Aufklärung, Menschenrechte und Zivilgesellschaft.«
In diesem Sinne sollen wir nicht nur, sondern müssen wir sogar als Kulturdolmetscher fungieren. Wenn es nicht gelingt, den Flüchtlingen das Grundgesetz und die damit verbundenen Werte zu vermitteln, dann ist es nämlich auch schlecht um die Zukunft der jüdischen Gemeinschaft bestellt. Denn zu den Grundwerten in der Bundesrepublik Deutschland gehören eben auch die Erinnerung an den Holocaust und ein positives Verhältnis gegenüber dem Staat Israel. Vielleicht, so darf man ganz vorsichtig hoffen, werden die neuen deutschen Staatsbürger ja auch einmal selbst zu Kulturdolmetschern werden und der Welt, aus der sie stammen, diese Werte vermitteln.
Der Autor ist Professor für jüdische Geschichte und Kultur in München sowie Direktor des Zentrums für Israel-Studien der American University in Washington.