Nie im Leben hätte ich mir vorgestellt, dass wir im Deutschland von heute überhaupt gegen Antisemitismus demonstrieren müssen. Dass das nötig ist, hätte ich nicht gedacht. Da es das aber geworden ist, sind wir hier, um gemeinsam entschlossen und geschlossen zu zeigen: Keinen Platz für Judenhass! Unter keinen Umständen! Dafür werden wir immer kämpfen, mit Macht, mit Kraft, mit aller Leidenschaft der ganzen Welt!
Wir Juden haben schwierige Wochen hinter uns. Das war für uns gewiss kein Sommermärchen. Wir haben Ausbrüche von Antisemitismus gesehen, schauderhafte Schockwellen von Judenhass. Synagogen sind angegriffen, jüdische Menschen sind bedroht worden. In den sozialen Netzwerken wurde und wird tonnenweise, kübelweise Häme, Hetze, Hass über uns ausgegossen. Und das geht immer weiter, bis heute. Auf deutschen Straßen haben wir antisemitische Parolen gehört von schamlosester Scheußlichkeit. Wir sagen, was wir denken und vor allem fühlen: Genug ist genug! Das wollen wir uns einfach nicht mehr gefallen lassen!
israel Das Ganze wird immer wieder gerechtfertigt mit dem Gaza-Krieg. Aber was, bitte, hat das eine mit dem anderen zu tun? Wenn auf deutschen Straßen Juden als »Schweine« beschimpft werden, wenn geschrien wird, sie sollten »verbrannt«, »geschlachtet«, »vergast« werden – dann hat das doch mit Gaza überhaupt nichts mehr zu tun. Das ist der reine, widerwärtige Antisemitismus pur und sonst gar nichts. Mit Israel hat das alles überhaupt nichts zu tun. Ich bleibe fest davon überzeugt: Wer wegen Israel zum Antisemiten wird, der war längst schon einer.
Ich will nicht dramatisieren und auch nicht bagatellisieren, aber das waren wirklich die schlimmsten antisemitischen Parolen auf deutschen Straßen seit vielen Jahrzehnten. Nichts gibt es daran zu relativieren oder zu verharmlosen, das kommt nicht infrage!
Und auch, wenn es wehtut und schmerzt, darüber zu sprechen: Die meisten, die diese Parolen geschrien haben, das waren nun einmal muslimische Fanatiker.
Wir wollen bestimmt nicht generalisieren, Pauschalurteile sind immer abzulehnen. Die meisten Muslime denken bestimmt anders. Wir suchen ihre Nähe und wollen ihre Freundschaft – nichts ändert sich daran. Dass in den letzten Wochen hier Moscheen angegriffen wurden, das betrifft uns alle, das tut uns allen weh, und das verurteilen wir alle gemeinsam! Aber richtig ist auch: Die muslimischen Verbände im Land müssen nun viel, viel mehr tun, um diesen wirklich katastrophalen Judenhass in ihren eigenen Reihen zu bekämpfen. Wann, wenn nicht jetzt?
islamisten Und Muslime dürfen doch einfach nicht zulassen, wenn radikale Islamisten ihre Religion missbrauchen, um Hass zu schüren! Dass auf deutschen Schulhöfen, dass auf deutschen Sportplätzen das Wort »Jude« mittlerweile längst als Schimpfwort gebraucht wird, das ist einfach eine Schande, ein Skandal, das ist eine brennende Wunde. Und kein anständiger Mensch in diesem Land darf sich jemals damit abfinden!
Die Ausbrüche von Antisemitismus haben viele jüdische Menschen im Land tief schockiert. Viele sind sehr besorgt, beunruhigt, bedrückt.
Verunsichert wir nun immer wieder die Frage gestellt: Hat Judentum denn unter diesen Umständen in diesem Land noch eine Zukunft? Diese Sorgen nehmen wir auf – und ernst. Aber ich will von dieser Stelle hier auch das Zeichen setzen: Ja! Judentum hat in diesem Land Deutschland eine Zukunft! Und ja, Judentum ist auch ein Stück Zukunft in Deutschland! Wir Juden lassen uns den Mut nicht nehmen! Unsere Seelen sind verwundet und verletzt. Aber wir lassen uns nicht einschüchtern. Wer darauf wartet, der soll, der muss warten bis in alle Ewigkeit!
empathie Aber ein bisschen mehr Empathie in den letzten Wochen hätten wir uns da und dort schon gewünscht. Viele von uns kommen ja noch aus Holocaust-Familien. Wir haben nie im Leben Großeltern gehabt, das gilt auch für mich selbst, weil die Eltern unserer Eltern in deutschem Gas ermordet wurden. Wie meint man wohl, wie wir uns fühlen, wenn wir heute auf deutschen Straßen den Slogan hören: »Juden ins Gas!« Und warum müssen wir selbst das ansprechen? Wo sind die Gefühle?
Als diese Demonstrationen abliefen, mit diesen schrecklichen Parolen, war das zunächst im Land kein so großes Thema. Es hat nicht weiter interessiert. Erst als wir im Zentralrat sagten, wenn denn keiner es zum Thema macht, dann müssen wir selber es tun – da wurde es Thema. Aber warum müssen wir selbst das eigentlich anstoßen? Wenn wir selbst nicht für uns sind, wer ist dann eigentlich noch von selbst für uns?
Aber auf der anderen Seite, seien wir auch nicht ungerecht: Heute sind viele, viele Menschen da und zeigen uns ihre Gefühle – und zeigen uns, dass sie solidarisch an unserer Seite stehen. Das tut uns gut. Und wir haben auch viel Zuspruch bekommen.
Die Medien im Land haben sich schnell, eindeutig und positiv positioniert und vorbildlich engagiert – das vergessen wir gewiss nicht. Die Kirchen auch, und aus der Politik haben wir viele positive Signale bekommen. Das hat uns gutgetan, und wir bedanken uns dafür von Herzen.
Und dann: Ja, wir Juden stehen nun einmal zu Israel. Und wir wollen uns für diese Haltung bestimmt auch nicht entschuldigen müssen. In vielen Blogs in diesen Wochen war immer wieder zu lesen, wir Juden sollten uns die Freiheit von Antisemitismus im Land sozusagen dadurch »verdienen«, indem wir uns von Israel distanzieren. Das ist aber ein Preis, den wir bestimmt nicht zahlen werden! Warum sollen wir Juden uns denn die Freiheit von Judenhass überhaupt irgendwie erkaufen müssen? Das alleine ist doch schon ein schauriger Gedanke!
sicherheit Denn Tatsache ist: Wir Juden sind, wenn es um Israel geht, einfach nicht neutral. Und wir sollten auch gar nicht erst so tun, als seien wir neutral. Nein, das sind wir nicht. Wir sind Partei. Unsere Neutralität endet immer spätestens dort, wo die Sicherheit von Israel beginnt. Und wenn wir das Gefühl haben, dass Israel wieder einmal ungerecht oder unfair behandelt wird – dann erwacht unser Beschützerinstinkt. Unsere Herzen werden deshalb immer sein mit den Menschen in Israel. Keine Macht der Welt wird daran etwas ändern können!
Die jüdische Gemeinschaft in diesem Land hat sich sehr verändert. Sie ist größer geworden. Und dass inzwischen so viele jüdische Menschen hier sind, das ist doch auch ein Ausweis des Vertrauens, das wir in dieses Land, in diese Menschen hier setzen. Und wir haben nach wie vor große Ambitionen, große Ziele. Wir wollen der jüdischen Gemeinschaft hier eine neue, eine moderne, eine frische und sogar und gerade hier auch eine positive Perspektive verschaffen. Zugegeben, in diesen Tagen, ist es gar nicht so leicht, das Positive hier zu sehen, obwohl wir in den letzten Jahren gemeinsam doch so viel erreicht haben.
Aber auf der anderen Seite: Wir Juden sind aus unserer langen Geschichte Schläge und Rückschläge leider doch nur allzu sehr gewöhnt. Und ich bin fest davon überzeugt: Wir dürfen uns auch jetzt nicht beirren lassen. Resignieren gilt nicht! Diesen Triumph werden wir niemandem geben! Wir Juden betteln auch nicht um Beistand. Empathie kann man ganz am Ende nicht wirklich einfordern. Fairness aber schon. Wir verlangen, wir fordern einfach mehr Fairness für die jüdische Gemeinschaft hier und in ganz Europa. Darauf allerdings bestehen wir!
frieden Und wie geht es weiter im Nahen Osten? Wir alle wünschen natürlich den großen Frieden, in dem alle Menschen in Sicherheit leben können, in dem einer den anderen respektiert, in dem jeder Mensch sein persönliches Glück suchen und finden kann, in dem die Herzen der Kinder nicht mit Hass vergiftet werden. Es muss aber ein Frieden sein, in dem, wie wir das sehen, die Hamas einfach keine Rolle spielen kann. Denn sie bleibt eine Terror-Truppe, die Israel zerstören will, die die eigenen Menschen als Schutzschilde missbraucht und mehr, viel mehr noch als das, die erklärtermaßen nach ihrer eigenen Charta sogar alle Juden auf der Welt ermorden will.
Der angekündigte, globale Judenmord also als offizielles Programm! Wie kann es sein, dass die Hamas unter diesen Umständen in diesem Land auch nur einen einzigen Befürworter haben kann? Das alleine ist doch schon fast unentschuldbar! Wir wissen nicht, wann der ersehnte Frieden dort kommen wird. Wir wissen aber genau: Wir wollen nicht in zwei, drei Jahren hier schon wieder stehen müssen. Was also tun? Mehr tun, noch mehr tun! Das gilt für uns alle. Politik, Verbände, Medien, für die ganze Zivilgesellschaft. Und dass so viele Menschen heute da sind, das ist eine Geste des Herzens, das ist ein Signal der Freundschaft. Es wird in ganz Europa gehört werden, da bin ich mir ganz sicher.
entschlossenheit Und wir, wir Juden selbst? Allen, die uns offenbar doch auf ewig hassen, setzen wir entgegen unsere unbeugsame Entschlossenheit, unsere jüdische Selbstbehauptungskraft im Sturm der Geschichte über die Jahrtausende hinweg, und unseren nimmermüden und immer wieder dennoch positiven jüdischen Spirit! Allen Voraussagen der Düsternis zum Trotz und oft gegen die Wahrscheinlichkeit. Wir sind, was wir sind und immer bleiben: bewusste und selbstbewusste Juden. Wir sind getroffen in ganz Europa. Aber niemals wird es gelingen, uns zu brechen. Niemals im Leben.
Vielleicht sollten wir selbst aber noch einmal öfter sagen und zu vermitteln versuchen: Das betrifft nicht nur uns Juden. Das ist ein Angriff auf die Werte, die für uns alle so wichtig sind: Liberalität und Toleranz und Freiheit und Menschlichkeit und Menschenwürde. Unsere Freiheit ist doch auch eure Freiheit! Wer dazu schweigt, wenn Juden heute angegriffen werden, wird morgen selbst betroffen sein. Und darum: Mehr tun! Mehr Courage! Wir wollen, dass eine solche Kundgebung gegen den Antisemitismus in Deutschland und in ganz Europa nie wieder nötig sein soll! Ganz Deutschland soll Antisemitismus-freie und Rassismus-freie Zone sein und es auch bleiben. Dafür werden wir immer kämpfen. Dafür kämpfen wir immer gemeinsam, und mit weniger wollen wir uns einfach nicht zufriedengeben. Und deshalb: Steh auf! Nie wieder Judenhass!
Lesen Sie hier den Wortlaut der Rede von Bundeskanzlerin Angela Merkel:
http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/20231