Ich bin Europäer aus Leidenschaft. Vielleicht liegt es daran, dass ich 1974 in Straßburg, an der Grenze zwischen Deutschland und Frankreich, geboren bin. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich in England und Belgien studiert habe, ein paar Jahre in Berlin war, inzwischen wieder in Paris lebe. Aber ich fühle mich auch in Schweden oder Italien zu Hause. Ich fühle mich als Europäer mit französischer Muttersprache.
Ich weiß: Ich befinde mich mit diesem Standpunkt in der Minderheit. Die Mehrheit meiner Landsleute, viele auch in meiner Generation, gehören zu den Europaskeptikern und Eurogegnern. 67 Prozent der Franzosen sehen die Zukunft der Europäischen Union skeptisch. Und das Misstrauen wächst weiter. Im Falle eines Referendums würden bereits 34 Prozent gegen einen Verbleib in der EU stimmen.
philosoph Das einzige Land, in dem die Zahl der Europabefürworter noch in der Mehrheit ist, ist übrigens Polen. Und der Blick weiter nach Osten zeigt: Selbst junge Ukrainer wollen Europäer werden. Und sie sind sogar bereit, dafür zu kämpfen. Und wir? Der Philosoph Edmund Husserl hat einmal geschrieben, die größte Gefahr für Europa sei der Überdruss. Wir benehmen uns wie verwöhnte Kinder: Wir wollen alles, und zwar sofort. Aber das europäische Projekt braucht Zeit – und gelegentlich auch den Blick zurück.
Wir dürfen nicht vergessen, wie dieser Kontinent vor 100 Jahren aussah, welche Folgen der Erste Weltkrieg hatte, welche Katastrophe dann folgte; dass Europa vor 70 Jahren ein einziges Trümmerfeld war. Und dann sollten wir uns vor Augen führen, was seitdem erreicht wurde. Viele Bürger europäischer Staaten wissen das, was sie haben, nicht mehr zu schätzen. Manchmal erfahren sie erst, wenn sie reisen – zum Beispiel nach Asien, Afrika, Südamerika –, wie andere mit Bewunderung von Europa sprechen. Von Freiheit, Pluralität, Demokratie und Menschenrechten, von Wohlstand und sozialen Errungenschaften.
tendenzen Selbstverständlich kann niemand die Augen vor den Problemen verschließen, die wir in Europa haben: die zentralistischen Tendenzen der Eurokraten und das unsinnige Verbot von Glühbirnen zugunsten von Energiesparlampen, die Eurozone in der Schuldenkrise, die Gefahr des Staatsbankrotts in Griechenland, die hohe Jugendarbeitslosigkeit in Spanien. Auch in Frankreich ist die Situation alles andere als rosig. Doch es ist zu einfach, zu behaupten, Europa sei schuld. Die Probleme sind oft hausgemacht, von den Regierungen in Athen, Madrid oder Paris.
Wenden wir uns im Besonderen der Situation der Juden in Europa zu. Hier machen Beschlüsse gegen das rituelle Schlachten in Polen, Forderungen nach einem gesetzlichen Verbot der Beschneidung in Norwegen oder der immer aggressiver werdende Antisemitismus in Ungarn Schlagzeilen. Auch in Frankreich wird die Situation ungemütlicher. Judenfeindliche Angriffe nehmen zu, viele fühlen sich bedroht, immer mehr wandern nach Israel aus. Zahlreiche Juden fühlen sich nicht mehr wohl in Europa. Das ist ein schlechtes Zeichen.
erdteil Europa ist eben auch ein jüdischer Kontinent. Die Geschichte der Juden ist ein wichtiger Teil der Geschichte dieses Erdteils – mit der kulturellen und religiösen Blüte, der Katastrophe der Schoa und dem Wiederaufbau nach dem Krieg. Das jüdische Leben hat sich in Europa entwickelt. Europa braucht die Juden, und die Juden brauchen Europa.
Um die Geschichte des gemeinsamen Europas zu verstehen, lohnt nochmals ein Blick auf die Zeit vor 1914. In vielen Bereichen war der Kontinent damals weltoffener und europäischer als heute. Und auch hier spielten Juden eine wichtige Rolle. Viele von ihnen waren Kosmopoliten. Sie reisten, sprachen zahlreiche Sprachen und stellten eine Beziehung zwischen verschiedenen Ländern und Kulturen her. Diese Menschen und dieser Geist existieren nicht mehr, sie wurden ermordet.
visionäre Aber etwas von diesem Geist brauchen wir heute wieder. Wir brauchen mehr echte Europäer, wir brauchen Visionäre, die an einem gemeinsamen Europa weiterbauen. Denn was haben wir mit den europäischen Werten gemacht? Viel zu wenig. Es gibt zu viele kleine Nationen, die damit beschäftigt sind, ihre Eigenständigkeit gegeneinander zu verteidigen. Es fehlt der europäische Geist, der den Kontinent zu Beginn des 20. Jahrhunderts prägte.
Wir müssen verstehen, dass wir nur als wirkliche Gemeinschaft wirtschaftlich überleben können, sonst drohen wir zu scheitern. Die einzelnen Staaten sind zu klein, ihre Wirtschaft zu schwach für den globalen Wettbewerb. Allein werden sie nicht bestehen. Wohlstand kann nur in einem gemeinsamen Markt gesichert werden – wirtschaftlich und politisch. Dieses Jahrhundert ist nicht die Zeit der Imperien, sondern großer Kontinentalblöcke. Als Europäer müssen wir dies verstehen. Und entsprechend handeln.
Der Autor ist Journalist und Schriftsteller in Paris.