Selbst Israels Kommentatoren waren überrascht: Nach einer Woche heftiger Unruhen begannen die ägyptischen Parlamentswahlen – die ersten demokratischen seit 1952 – ordentlich und friedlich. Der Anblick von Bürgern, die geduldig in der Schlange warten, um ihre Stimme abzugeben, bildete einen erfreulichen Kontrast zu den blutigen Szenen der Woche zuvor, die die Angst schürten, dass Israels wichtigster und mächtigster Nachbar im Chaos versinken könnte. Dennoch ist man im jüdischen Staat über die Entwicklungen in der Region besorgt: Längst spricht man hier nicht mehr vom »Arabischen Frühling«, sondern vom kommenden »Islamischen Winter«.
Wegweiser In Marokko und Tunesien haben sich die Muslimbrüder (MB) bereits als stärkste politische Kraft etabliert. In Ägypten steht das anscheinend bald bevor. »Ägypten wird wegweisend sein«, meint der israelische Nahostexperte Ehud Yaari. »Die Muslimbrüder in Jordanien werden daraufhin mehr Macht fordern, und nach dem Sturz von Syriens Präsident Baschar al-Assad werden sie auch dort den Ton angeben.« Obschon sich diese islamischen Organisationen in Vielem unterscheiden, kann man doch einen gemeinsamen Nenner erkennen: tiefe Feindschaft zu Israel.
Kein Wunder also, dass Israels Premier Benjamin Netanjahu sich vor wenigen Tagen kaum über die Demokratisierung Arabiens freuen konnte: »Israel möchte nichts lieber als demokratische Nachbarn«, sagte er. Doch es sei alles andere als sicher, ob die Staaten dafür auf dem richtigen Weg seien. »Wir könnten uns mit großer Wahrscheinlichkeit in einer Region wiederfinden, die uns feindlicher gegenübersteht denn je, und dieser Zustand kann lange andauern.«
Eine weitere Abkühlung des ohnehin »Kalten Friedens« mit Kairo hätte für Israel wirtschaftlich kaum Bedeutung – bis auf eine Ausnahme. Neun Mal wurde dieses Jahr bereits die Gasleitung nach Israel im Sinai gesprengt, was einen Anstieg der Stromgebühren zur Folge hatte. Doch eigentlich muss das Israel nicht stören, ist doch die Energieversorgung langfristig durch bedeutende Funde im Mittelmeer sichergestellt, und das zu besseren Bedingungen als momentan.
Umbrüche Doch diplomatisch und militärisch ist der Vormarsch der Muslimbrüder in Kairo ein Problem. Schon jetzt, meinen selbst ausländische Beobachter, sei die radikal-islamische Hamas Gewinner der regionalen Umbrüche. Es sei »Pflicht, den bewaffneten Widerstand der Palästinenser mit allen Mitteln zu unterstützen«, heißt es in einem ägyptischen MB-Kommuniqué vom März 2010. Noch vor den Wahlen besuchten hochrangige Vertreter der Partei demonstrativ die Hamasführung im Gazastreifen.
Besorgt berichten lokale Medien über die Kundgebungen der Salafisten auf dem Tahrir-Platz in Kairo, wo sie lauthals neben den westlich orientierten Bloggern demonstrieren und offen den Niedergang Israels fordern. Als die Opposition vergangene Woche die Massen zu Protesten gegen die Herrschaft der Armee aufrief, veranstalteten die Muslimbrüder, die die Wahlen auf keinen Fall gefährden wollten, eine Gegendemonstration vor der israelischen Botschaft in Kairo, die die Aufmerksamkeit von den inneren Problemen abwenden und auf den Kampf gegen Israel lenken sollte.
Die Sorge der Israelis wurde diese Woche bei den Haushaltsdebatten in Jerusalem deutlich: Erstmals forderte die Armee mehr Geld, um sich auf einen möglichen Krieg mit Ägypten vorzubereiten. Netanjahu meinte vorsichtig, Israel stehe vor Herausforderungen, die es seit 1979 nicht mehr gekannt habe – dem Jahr, in dem der Friedensvertrag mit Ägypten unterschrieben wurde. Man muss umdenken: Bisher galt das Szenario eines Dreifrontenkriegs gegen Syrien, einen Gegner im Osten und Ägypten als unwahrscheinlich.
Jetzt darf es nicht mehr ausgeschlossen werden. Für einen simultanen Kampf gegen Ägyptens Armee, die zehntgrößte der Welt, ist Israel aber nicht gewappnet. Investitionen, die bisher in Forschung und Infrastruktur flossen, müssten in die Rüstung gesteckt werden, um, so Experten, mindestens zwei weitere Panzerdivisionen aufzubauen. Ein Krieg zwischen Ägypten und dem nuklear gerüsteten Israel scheint aller Sorge zum Trotz vorerst jedoch unwahrscheinlich.
Raketen Andere Schreckensszenarien sind hingegen durchaus möglich: Eine demokratisch gewählte Regierung in Ägypten müsste die Anliegen der MB und der Bevölkerung vertreten. Laut einer Umfrage des Washingtoner Pew Research Center vom Dezember 2010 sympathisieren rund 49 Prozent der Ägypter mit der Hamas, 20 gar mit Al Qaida. Eine ähnlich große Gruppe rechtfertigte Selbstmordattentate, um den Islam zu verteidigen. Eine MB-Regierung wird bemüht sein, die Hamas aus ihrer diplomatischen, wirtschaftlichen und militärischen Isolation zu führen. Dafür muss Kairo keine Raketen an die Hamas liefern.
Es genügt, dass Polizisten im Sinai wegschauen, wenn reguläre Mittelstrecken- oder Flugabwehrraketen nach Gaza geschmuggelt werden. Solche Waffen könnten das Machtgefüge in der Region verschieben. Mit zusätzlichem Rückhalt aus Kairo könnte die Hamas viel gewagter gegenüber Israel agieren als bisher. Ein Wahlsieg der Islamisten in Kairo birgt für Jerusalem vorerst mehr Gefahren als Chancen.