Das Heilige Römische Reich kannte den »Schutzjuden«, der für seine Sicherheit eine happige Sondersteuer an Kaiser und König hinlegen musste. Später gab es den »Schutzbrief«, der klammen Landesherren günstige Kredite verschaffte. Doch »Geld für Leben« brachte keinen verlässlichen Schutz, wie der berüchtigte Fall des Joseph Süß Oppenheimer zeigt.
Als dessen Gönner Herzog Karl Alexander starb, brachten seine Verfolger den »frechen Jud« (so eine damalige Bildinschrift) wegen »Geitz, Übermuth und Wollust« an den Galgen. Der Nazi-Regisseur Veit Harlan hat daraus einen antisemitischen Hit gemacht: »Jud Süß«.
Heute läuft es in Deutschland freundlicherweise umgekehrt. Seit die jüdische Gemeinde nur noch einen Bruchteil jener 500.000 vor Hitler ausmacht, werden die hiesigen Juden besonders unterstützt. Gerade hat die Regierung die jährliche Staatsleistung an den Zentralrat von 13 auf 22 Millionen erhöht. Das ist nicht viel angesichts der Milliarden für unzähliges andere – wie etwa favorisierte Industrien. Es ist aber ein deutliches Signal.
Der »Schutzjude« von gestern und der »geschützte Jude« von heute
Der »Schutzjude« von gestern ist zum »geschützten Juden« geworden. Nachdem die Sowjetunion ab den späten 70er-Jahren jüdische Auswanderung erlaubt hatte, wurden rund 100.000 Kontingentflüchtlinge ins Land geholt. Das »Reservat« (kein Ghetto!) schrumpft zwar, wird aber materiell wie ideell behütet. Nicht der Staat ist also das Problem. Der zelebriert Gedenktage und fördert jüdische Institutionen in einem Maße wie nirgendwo sonst in Europa.
Aber was ist dann das Problem, das uns seit dem 7. Oktober, dem Hamas-Blutbad, quält? Krass gesagt: Der Antisemitismus in der Gesellschaft ist nicht wieder da, er war es schon immer, wie die Umfragen seit Jahrzehnten zeigen. Die gemessene (nicht unbedingt echte) Quote liegt bei 20 plus Prozent.
Es brauchte nur den Funken der Massaker und Israels existenzielle Gegenwehr, um Orgien der Judenfeindschaft zu entfachen. Derlei wird gern als Antizionismus verklärt, geht aber gegen Juden als solche, wie die täglichen Angriffe zeigen. Getrieben werden diese nicht nur von »migrantischen« Übeltätern, wie es verdruckst heißt, sondern »richtigen« Deutschen. Von links noch mehr als von weit rechts – die Beispiele müssen hier nicht wiedergekäut werden –, zumal in der Intelligenzia.
Juden sollten sich nicht als Schutzbefohlene fühlen, sondern als Gleiche unter Gleichen.
Und das übrigens quer durch die westliche Welt: in den Straßen, auf dem Campus und Schulhof, in den »Asozialen Medien«. »Wir haben Angst«, so lautet der »Spiegel«-Titel vom 28. Oktober, der besorgte jüdische Gesichter zeigt. »Nie wieder ist jetzt«, heißt es auf dem »Stern«-Cover vom 2. November, das ebenfalls auf verstörte Mienen setzt. In der Unterzeile steht: »Juden in Deutschland« brauchen den »klaren Schutz durch den Rechtsstaat«.
Die Anteilnahme ist so anheimelnd wie prekär. Plötzlich ist der »Schutzjude« wieder da – diesmal nicht als betuchter Untertan von Herrschers Gnaden, sondern als Mitleidsobjekt, als seelischer Zuwendungsempfänger. Drehen wir es weiter ins Unterbewusste, ist der Jude nicht wirklich »einer von uns«, sondern Mitglied einer bedrohten Art wie Insekten und Eisbären.
So mancher glaubt, er müsse wieder die Koffer packen
Letztere aber sterben nicht aus, sondern vermehren sich. Dagegen sinkt die Zahl der Gemeindemitglieder stetig von 107.000 im Jahre 2006, dem Höhepunkt, auf aktuell 90.000. So mancher glaubt, er müsse wieder die Koffer packen. Derweil studieren die Jungen in Amerika, Israel und England, von wo sie nicht unbedingt zurückkehren.
Juden sind hier brave Bürger – geradezu unsichtbar im Vergleich zum frühen 20. Jahrhundert, als sie als Schriftsteller, Professoren, Anwälte und Künstler hervorstachen sowie Neid und Wut anzogen.
Die deutschen Juden haben indes ein Problem mit dem Nichtauffallen. Sie tauchen wie in diesen Tagen entweder als Opfer der Judenfeindschaft oder als Stellvertreter israelischer »Aggression« gegen eine Milliarde Muslime auf. So mächtig war der »Jud« noch nie. Mitleid, ob aufrichtig oder plakatiert, zeugt nicht von einem »Wir«, sondern einem »Ihr«. Das ist das Gegenteil von Dazugehörigkeit. Und Mitleid kippt übrigens gern in Ressentiment um.
»Wir werden uns nicht auseinanderdividieren lassen.«
Fürsorglich die Stimmen der Angst zu sammeln, ist wie ein Trostpflaster, das wie ein echtes nicht lange hält, und wer Schutz braucht, ist Objekt, nicht Subjekt. Kanzler Scholz hat vorweg das Übliche verkündet. Er werde alles tun, »um jüdisches Leben in Deutschland zu schützen«. Aber entscheidend war dieser Satz: »Wir werden uns nicht auseinanderdividieren lassen. Wer Juden angreift, wer sie beleidigt oder verletzt, greift uns alle an.« Ausgrenzung sei eine »Schande« für alle.
Menschlichkeit ist im liberal-demokratischen System unteilbar.
Da entsteht eine Zukunftsperspektive. Ob einer weiß oder dunkelhäutig, Christ oder Jude ist, tut ebenso wenig zur Sache wie die Meinung, so sie nicht mit dem Strafgesetzbuch kollidiert. Juden sind keine Opfer, die besonderen Schutz brauchen, der »uns« von »denen« trennt. Sonor gesagt: Menschlichkeit ist im liberal-demokratischen System unteilbar. Dass der Staat die Juden schützen will, ist ein hehrer Wunsch.
Nur sollten die sich nicht als Schutzbefohlene fühlen müssen, sondern als Gleiche unter Gleichen. Das kann der Staat nicht befehlen, es muss von unten kommen. Wie in Washington, wo im November die größte Pro-Israel-Demo aller Zeiten mit Aberzehntausenden stattfand. Das waren keine »Schutzjuden«, sondern freie Bürger, die keiner staatlichen Pädagogik bedurften.
Josef Joffe war Chefredakteur und Herausgeber der »Zeit« und lehrt aktuell in den USA.