Im Haager Friedenspalast, in dem der Internationale Gerichtshof (IGH) seinen Sitz hat, war am Vormittag noch Platz.
Zumindest auf der Seite der israelischen Vertreter, die sich am Freitag vor dem Internationalen Gerichtshof, dem höchsten Gericht der Vereinten Nationen, erneut gegen einen Antrag Südafrikas auf einstweilige Anordnungen im Zusammenhang mit dem Krieg in Gaza zur Wehr setzen mussten.
Traten am Donnerstag gleich fünf Redner für die Klägerseite vor die 17 Richter, beließ es die israelische Seite in ihrer Entgegnung bei zwei: dem Rechtsberater der Regierung Gilad Noam und der Juristin Tamar Kaplan. Die übrigen Plätze in der ersten Reihe der Klagegegner blieben leer.
Das war wahrscheinlich symbolisch gemeint, denn den beiden Israelis war der Frust über den erneuten Antrag Südafrikas auf Sofortmaßnahmen sichtlich anzumerken. Seit Januar hat sich der Gerichtshof schon mehrfach mit der Klage Südafrikas gemäß der Völkermord-Konvention befasst. Dabei ist das Hauptsacheverfahren noch immer in weiter Ferne, da beim IGH noch zahlreiche andere Verfahren anhängig sind, die vorher abgearbeitet werden müssen. Einzige Ausnahme von dieser Regel: Eilanträge. Diese haben Priorität.
Erst am Montag war Israel vom Gerichtshof mitgeteilt worden, dass erneut eine mündliche Verhandlung stattfinden würde. Südafrika wirft Jerusalem vor, einen Völkermord an den Palästinensern zu planen und ins Werk zu setzen. Und sie will mit ihrem Antrag in Den Haag verhindern, dass die israelische Armee wie geplant in Rafah angreift.
»Israel will Gaza von der Landkarte ausradieren«
Vaughan Lowe, Vertreter Südafrikas vor dem Internationalen Gerichtshof
Selbst wenn Israel sich über eine etwaige Anordnung des Gerichts auf einen Stopp der Kampfhandlungen hinwegsetzen würde: Der Erlass einer solchen wäre für Südafrika ein propagandistischer Erfolg, den es ausschlachten könnte.
So kämpfte die Klägerseite denn auch mit harten Bandagen. Der britische Völkerrechtler Vaughan Lowe bezichtigte Israel, es wolle mit seiner Militäraktion ganz Gaza von der Landkarte ausradieren. »Dies ist der letzte Schritt (Israels) zur Zerstörung des Gazastreifens und der Menschen dort«, behauptete der Professor von der Universität Oxford. Der Gerichtshof, suggerierte er, könne durch eine Anordnung den Angriff auf die Stadt Rafah im südlichen Gazastreifen noch stoppen.
Fuhr Lowe schon schwere rhetorische Geschütze auf, wurde sein Kollege Max du Plessis noch schneidiger. Israel wolle mit seinem Angriff in Rafah ein Exempel an den Palästinensern statuieren. Ja, es wolle die Bevölkerung im Gazastreifen vorsätzlich »physisch und biologisch zerstören«. Die Hamas und die Geiseln, die von der Terrororganisation seit sieben Monaten festgehalten werden, erwähnte du Plessis ebenso wenig wie sein Vorredner mit auch nur einem Wort.
Doch es ging noch härter. Adila Hassan ergriff das Wort. Die südafrikanische Juristin sagte, Israel habe mittlerweile »die Macht über jede einzelnen Mann, jede einzelne Frau, jedes einzelne Kind in Gaza. Es kann bestimmen, wie sie leben und wie sie sterben.«
Die Botschaft der Kläger an die Richter war klar: Israel hat die bisherigen Anordnungen des Gerichtshofs nicht oder nicht ausreichend beachtet, es führt seine Offensive ungerührt fort, es begeht schlimmste Verbrechen und muss deshalb durch drastische Maßnahmen gestoppt werden.
»Mit Hamas unter einer Decke«
Die israelische Seite hatte nur 15 Stunden Zeit, sich mit den vorgebrachten Argumenten auseinanderzusetzen. Sie ließ sich nicht dazu hinreißen, es Südafrika mit gleicher Münze zurückzuzahlen, auch wenn Gilad Noam und Tamar Kaplan nicht mit deutlichen Worten sparten. Sie machten eher böse Miene zum bösen Spiel.
Gleich zu Beginn monierte Noam, die Kurzfristigkeit des jüngsten Antrags, der Israel kaum Zeit gegeben habe, sich ordentlich vorzubereiten. Pretoria habe seinen Antrag zudem in letzter Minute noch abgeändert, schimpfte er. Prozedurale Waffengleichheit sehe anders aus.
Als er auf das Schicksal der Geiseln in der Gewalt der Hamas zu sprechen kam, brach Noam die Stimme. Der Jurist war den Tränen nahe. Währenddessen scrollte der südafrikanische Vertreter Vusimuzi Madonsela, der direkt neben dem am Rednerpult stehenden Noam saß, ungerührt auf seinem Handy. Als der Israeli Südafrika vorwarf, mit der Hamas unter einer Decke zu stecken, blickte Madonsela dann aber doch auf.
»Hamas und die südafrikanische Regierung haben sich getroffen, um ihre andauernde Kampagne gegen Israel zu besprechen – die vor Gericht und die vor Ort. Südafrika interessiert sich nicht für die Wahrheit und auch nicht für Recht und Gerechtigkeit. Es missbraucht das Gericht«, schimpfte Gilad Noam – und beschuldigte Pretoria, das Verfahren durch ihre Eilanträge absichtlich hinauszuzögern.
»Südafrika hat es mit dem Hauptverfahren nicht eilig, weil es dann seine unhaltbaren Anschuldigungen untermauern muss mit Beweisen (für einen israelischen Genozid), welche schlicht nicht existieren«, so Gilad Noam. Israel lese die diversen UN-Berichte sehr genau. »Wir studieren sie, ziehen Schlussfolgerungen und Lehren daraus. Allerdings sollten die Aussagen solcher Berichte nicht automatisch als Beweise akzeptiert werden, insbesondere nicht in der komplexen Kampfsituation.« Die Argumente Pretorias stützen sich »häufig auf Hamas-Quellen«, betonte er.
Noch wütender wurde Noam, als es auf den Vorwurf Pretorias einging, Israel habe im Gazastreifen gezielt Schutzzonen geschaffen, in denen es palästinensische Zivilisten gezielt vernichte. »Südafrika hat hier keine Gelegenheit ausgelassen, Israel mit haarsträubenden Anschuldigungen zu belegen. Am widerwärtigsten ist der Vorwurf, Israel habe Vernichtungszonen geschaffen, was eine Anspielung an den Holocaust ist. Wie tief ist Südafrika doch gesunken!«
Auch Tamar Kaplan versuchte, den Vorwurf, Israel seien die Menschen in Gaza egal, zu entkräften und den Fokus auf den eigentlichen Kriegsgrund zu legen, die Hamas und die Geiseln. »In der gestrigen Erklärung Südafrikas haben wir kaum das Wort ›Hamas‹ gehört«, betonte sie. »Stattdessen haben wir eine Sprache gehört, die so hasserfüllt und abgehoben ist, dass man nur schwer glauben konnte, dass wir uns hier in einem Gerichtssaal befinden.«
Stück für Stück versuchte Kaplan dann, die Argumente der Klägerseite zu zerpflücken. Entgegen anderslautender Berichte sei der Grenzübergang Keren Shalom war in den letzten Monaten durchgängig für Hilfslieferungen in den Gazastreifen geöffnet gewesen – »mit nur einer Ausnahme: Zwischen dem 5. und dem 8. Mai war er geschlossen, weil die Hamas ihn unter Beschuss genommen hatte. Dennoch habe Israel auf Anweisung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sofort Alternativen gesucht und sei in den Norden Gazas ausgewichen.
Auch beim Übergang Rafah gebe es Gespräche mit Ägypten und anderen Ländern, um mehr Hilfslieferungen zu ermöglichen. In den letzten Wochen, so Kaplan, seien die Lieferungen für die Zivilbevölkerung gestiegen, betonte sie. Israel erlaube es palästinensischen LKW-Fahrern aus dem Gazastreifen sogar, Hilfslieferungen in Israel abzuholen. »Darüber haben wir gestern nichts gehört«, rief die Juristin der Klägerseite zu.
Vorwürfe, Israel habe mutwillig fast alle Krankenhäuser in Gaza zerstört, wies Kaplan scharf zurück. Das Gegenteil sei der Fall. Nur Terroristen, die sich in Krankenhäuser verschanzten, seien das Ziel der IDF. Im Al-Shifa-Krankenhaus in Gaza City seien trotz der intensiven militärischen Aktivitäten weder Patienten noch medizinisches Personal während der Operation der IDF verletzt worden.
Die Menschen im Gazastreifen würden bei israelischen Bombardements oder Angriffen vorgewarnt, sagte sie. »Israel hat 13 Millionen Textnachrichten an die Zivilbevölkerung in Gaza geschickt, um sie vor geplanten IDF-Aktivitäten in bestimmten Zonen zu warnen. Es hat 18 Millionen voraufgezeichnete Telefonanrufe und 100.000 individuelle Telefonanrufe getätigt.« Die Anschuldigungen, ihr Land verstoße vorsätzlich gegen das humanitäre Völkerrecht, seien falsch, so Kaplan.
Abschließend appellierte sie an die 17 Richter, den Antrag Pretorias abzuweisen. »Dem Ersuchen Südafrikas stattzugeben wäre ein Affront gegen die Idee des Rechtsschutzes an sich«. Es würde, so Kaplan, nur der Hamas ermöglichen, Israel weiter anzugreifen.
Kurz bevor sie ihren Vortrag beendete, kam es zu einem Zwischenfall. Eine Frau rief von der Zuschauertribüne herab, »Ihr seid Lügner«. Der Livefeed aus dem Gerichtssaal wurde für wenige Sekunden unterbrochen, doch dann ging es weiter.
Der Deutsche Georg Nolte war der einzige Richter, der nach den ganzen Reden noch eine Frage stellen wollte. Wie es um die humanitäre Lage in den von Israel ausgewiesenen Evakuierungsgebieten bestellt sei, wollte er von Noam und Kaplan wissen, und wie die Menschen aus Rafah sicher dorthin gelangen könnten. Eine sofortige Antwort gab es dann nicht.
Der libanesische IGH-Präsident Nawaf Salam, der genau wie der Tagungsort des Gerichts den Frieden im Namen trägt, räumte Israel eine Frist bis Samstagnachmittag, 18 Uhr, für die Beantwortung der Frage ein – eine ungewöhnlich knappe Deadline.
Man werde schnell entscheiden über den Antrag Südafrikas, sagte Salam, und schloss dann die Sitzung. Schon kommende Woche könnte sich entscheiden, ob die Richter neue Auflagen an Israel beschließen.