Interview der Woche

»Wichtige Schritte sind gemacht«

Samuel Salzborn über Erinnerungsabwehr, BDS-Unterstützer und gefährliche Allianzen

von Katharina Schmidt-Hirschfelder  29.12.2021 17:05 Uhr

Will mit seiner Arbeit das Bewusstsein für Auseinandersetzungen schärfen: Samuel Salzborn Foto: Chris Hartung

Samuel Salzborn über Erinnerungsabwehr, BDS-Unterstützer und gefährliche Allianzen

von Katharina Schmidt-Hirschfelder  29.12.2021 17:05 Uhr

Herr Salzborn, im August 2020 übernahmen Sie das Amt des Berliner Landesantisemitismusbeauftragten von Lorenz Korgel, der es bis dahin kommissarisch führte. Welche Strukturen fanden Sie vor?
Lorenz Korgel hat eine Menge an struktureller Vorarbeit geleistet. Dazu gehört das Berliner Landeskonzept zur Weiterentwicklung der Antisemitismusprävention. Der Senat hatte es schon im März 2019 verabschiedet. Es ist das erste Landeskonzept überhaupt, basierend auf den drei Säulen Prävention, Intervention und Repression, und damit ein ganz maßgeblicher Schritt. Weil es ressortübergreifend ist und die Zusammenarbeit von Senat, Bezirken und Zivilgesellschaft auf eine systematische Grundlage stellt.

Was haben Sie als Erstes gemacht?
Gleich von Anfang an war ich mittendrin. Ich hatte meinen Schreibtisch noch nicht ganz eingerichtet, da ereigneten sich bereits konkrete antisemitische Vorfälle.

Welche waren das?
Es ging da um eine Veranstaltungsreihe an der Universität der Künste (UdK), wo Personen eingeladen waren, die Israelhass verbreiteten.

Wie gehen Sie solche Vorfälle dann an, zum Beispiel an der UdK?
Zum einen unterstütze ich Betroffene, zum anderen sensibilisiere ich für das Thema in vielen Richtungen weiter. Bei der UdK war es so, dass es eine Gesprächsrunde mit dem Präsidium gab. Mit dem Ergebnis, dass die Veranstaltung am Ende nicht komplett durchgeführt wurde. Man war sehr offen für uns und bereit, proaktiv zu werden.

Inwiefern?
Man will sich des Themas strukturell annehmen. So sagte die Universitätsleitung zu, im Jahr 2022 die Forschung zur eigenen Geschichte, zu Vorläuferinstitutionen initiieren zu wollen. Da greifen dann Dinge ineinander: sich sowohl mit dem konkreten Vorfall auseinanderzusetzen als auch mittel- und langfristige Sensibilitäten herzustellen, sodass dann etwa Vortragsreihen mit antisemitischen Teilnehmern nicht mehr stattfinden. Das ist das Ziel. Aus einem Vorfall entstand so ein längerer Prozess, der sich meines Erachtens langfristig positiv entwickelt.

Ist das charakteristisch für Ihre Tätigkeit – einerseits langfristige Etablierung von Präventionsmechanismen im Blick zu haben, andererseits bei konkreten Vorfällen einzugreifen?
Genau das ist der Spagat. Antisemiten sehen sich in der Oberhand in der Gesellschaft – daher ist Antisemitismus ein tagesaktuelles Dauerproblem. Mit Vorfällen, Übergriffen, Diskriminierung. Das prägte von Anfang an meinen Arbeitsalltag.

In Berlin gibt es neben Ihnen drei weitere Antisemitismusbeauftragte: Sigmount Königsberg für die Jüdische Gemeinde, Claudia Vanoni für die Justiz und Wolfram Pemp für die Polizei. Worin unterscheidet sich Ihre Tätigkeit?
Ich bin in alle Richtungen Ansprechpartner – seitens des Senats, der Bezirke, der Zivilgesellschaft, der jüdischen Community. Ich versuche, in unterschiedlicher Weise zu wirken. Bei manchen Vorfällen verweise ich auf andere Stellen wie OFEK als Beratungs- und RIAS als Monitoringstelle. Mit beiden arbeiten wir sehr eng zusammen. Auch gibt es verschiedene Abstimmungsrunden, an denen unter anderem Polizei, Generalstaatsanwaltschaft und Jüdische Gemeinde beteiligt sind.

Alle agieren gemeinsam?
Ja, und zwar auf Grundlage des Leitfadens zur Verfolgung antisemitischer Straftaten, herausgegeben von der Polizei und der Generalstaatsanwaltschaft. Das ist ein Leitfaden, der, wenn es zu Vorfällen kommt, in den Polizeiabschnitten die Kolleginnen und Kollegen sensibilisieren helfen soll.

Wenn also jemand Strafanzeige stellt …
… soll klar sein, es ist nicht einfach eine Körperverletzung mit antisemitischem Tat­hintergrund, den man wahrnimmt, dokumentiert und weitergibt, sondern dass die Beamtinnen und Beamten verstehen: Eine Straftat mit antisemitischem Motiv würde es ohne Antisemitismus gar nicht geben. Es ist nicht eine Körperverletzung mit Antisemitismus, sondern Antisemitismus ist das Motiv, das zur Körperverletzung führt. Das ist später wichtig für die Strafverfolgung und die Strafmaßzumessung. Der Leitfaden bietet den Beamten wirklich eine Hilfestellung, unterschiedliche Formen von Antisemitismus zu erkennen.

Was hat sich bei Polizei und Justiz sonst noch getan?
Es gibt eine Reihe von Fortbildungsangeboten, teils selbstinitiativ, teils durch eigene Träger. Zu nennen wäre da etwa das Modellprojekt »Regishut«, das Sensibilisierung zu Antisemitismus in der Berliner Polizei fördert. Ab 2022 wird es auch ähnliche Angebote an der Verwaltungsakademie geben, also bei der Verwaltungsausbildung. Einerseits muss man intervenieren, andererseits langfristige Strukturen schaffen, um eben nicht immer nur zu reagieren – genau das, worauf das Berliner Landeskonzept basiert.

Wie werden die Angebote angenommen?
Sehr gut. Wir haben etwa im Herbst einen Fachtag für die Berliner Verwaltung bei der Landeszentrale für politische Bildung organisiert – er war extrem nachgefragt, von der Leitungsebene bis zu Bezirksamtsmitarbeitern. Es gibt einen großen Bedarf, das Thema präsent zu machen, und eine große Bereitschaft.

Und woran mangelt es?
An Wissen und an Vernetzung. Strukturen aufzubauen, die bis vor fünf Jahren nicht existierten, sind Prozesse, die Zeit brauchen.

Fühlen Sie sich von der Politik unterstützt?
Das Berliner Modell ist schon ziemlich einzigartig. Berlin ist in der Antisemitismusbekämpfung Vorreiter. Es gibt hier grundsätzlich eine große Offenheit. Ich habe einen Kollegen in einem anderen Bundesland, der fragte mich einmal: »Wie schaffst du es, dass eure Polizei überhaupt mit der Zivilgesellschaft redet?« Dieses Problem habe ich hier gar nicht. Es gibt die Grundbereitschaft in den Behörden – Polizei, Verwaltung, Justiz. Ich unterstütze, begleite, initiiere und pflege einen engen Austausch, permanent und bei einzelnen Vorfällen über viele Monate.

Und außerhalb der Behörden – welche Erfahrungen machen Sie da?
Auch privat ist viel Bereitschaft da. So wies mich etwa im vergangenen Jahr eine Bürgerin auf Schmierereien an der East Side Gallery hin. Den Vorgang habe ich direkt verfolgt, bin auf die Denkmalschutzbehörde im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg zugegangen, habe Gespräche mit dem Eigentümer des Privatgrundstücks geführt – mit extrem positiven Reaktionen: Der Eigentümer hat das Mauerstück reinigen lassen, speziellen Graffitischutz aufgetragen und zugesagt, dies auch in Zukunft zu tun. Bei einer erneuten Beschmierung tat er genau das. Je mehr Menschen darauf achten, nicht nur bei Übergriffen, sondern auch bei maßgeblicher antisemitischer Symbolik wie beim Wandgemälde »Vaterland«, umso schwerer haben es Antisemiten, sich durchzusetzen.

Wo sehen Sie positive Entwicklungen?
Es bewegt sich viel in unterschiedlichen Richtungen. Das Netzwerk »Berlin Partner«, ein wesentliches Element für die Berliner Wirtschaft, hat die Kampagne »Berlin gegen Antisemitismus« initiiert, sichtbar im Stadtbild. Daran sind zahlreiche Unternehmen beteiligt, die jetzt auch überlegen, ein Bewusstsein für Antisemitismus, aber auch für jüdisches Leben in ihrer Unternehmenskultur zu verankern. Solche Initiativen dürfen nicht unterschätzt werden, gerade bei Unternehmen mit mehreren Tausend Mitarbeitern. Das hat dann schon Strahlkraft. So versuchen wir, auf vielen Ebenen parallel etwas in Gang zu setzen.

Wo ist der dringendste Handlungsbedarf?
Antisemiten nehmen jeden Anlass zum Vorwand, um sich antisemitisch zu äußern und zu betätigen. Der Antisemitismus ist da und wird unter einem Vorwand aktiviert – seien es Entwicklungen in Israel oder Hygieneschutzverordnungen. Das ist eine langfristig zentrale Erkenntnis, die man nicht vergessen darf. Auch wenn die Pandemie irgendwann vorbei ist – das antisemitische Verschwörungsdenken wird nicht aus der Welt sein.

Warum ist das so?
Wegen einer nach wie vor nicht erfolgten Aufarbeitung der Vergangenheit. Man darf nicht vergessen: In der Geschichte der Bundesrepublik war Antisemitismus in allen politischen Milieus immer vorhanden, nicht nur in der extremen Rechten – wenn auch dort ganz zentral –, sondern auch in der politischen Linken. Die meisten Debatten, die wir geführt haben, ereigneten sich in der Mitte der Gesellschaft: Die Beschneidungsdebatte ist ein Schlüsselereignis. Antisemitismus ist immer noch ein gesellschaftliches Element, das in Deutschland in allen politischen Spektren vorhanden ist, einen großen Resonanzraum in der Mitte der Gesellschaft hat und jederzeit reaktivierbar ist.

Wann wird es besonders gefährlich?
Wenn diese Bilder ihre besondere Aggressivität in Gewalt entladen, vor allem im rechtsextremen und im islamistischen Milieu. Man darf nicht die Augen davor verschließen, dass diese Milieus mittlerweile gemeinsame Sache machen. Islamisten und Rechtsex­tremisten sind sich in vielen Fragen spinnefeind. Aber wenn wir uns etwa den Al-Quds-Marsch anschauen, dann demonstrieren sie gemeinsam. Da gibt es Solidarisierung wechselseitiger Art. Das wird noch unterschätzt. Und es ist eine wirklich große Bedrohung. Wenn man Antisemitismus im jeweils anderen politischen Milieu verortet, kann man dabei leicht übersehen, dass er im eigenen Milieu ebenso verbreitet ist, siehe politische Linke und BDS. Das ist ein echtes Problem.

Allianzbildungen über Antisemitismus?
Genau. Auch bei den sogenannten Corona-Protesten wurde das lange unterschätzt. Dabei waren schon im Frühjahr 2020 die antisemitischen Motive da. Antisemitismus ist der zentrale Radikalisierungsmotor dieser Demonstrationen, immer offener, immer deutlicher. Er ist die Brücke, die die massive Gewaltaffinität und Gewalttätigkeit dieser Demonstrationen mitprägt.

Apropos BDS. Woraus speist sich die Unterstützung der Israelboykott-Bewegung?
Aus einer Mischung aus großer Unwissenheit und Vorsatz. Wann wir es mit anti-israelischem Antisemitismus zu tun haben, ist geradezu banal zu erkennen. Schließlich haben wir dafür ein etabliert-wissenschaftliches, international anerkanntes Instrumentarium. Wir haben mit dieser Orientierungshilfe zu prüfen, ob wir es mit einer Dämonisierung, Delegitimierung oder doppelten Standards zu tun haben. Das wird oftmals nicht wahrgenommen und, wenn es um Antisemitismus in progressiven Milieus geht, auch gerne mal ausgeblendet, gerade im Kunst- und Kulturbereich.

Wieso gerade dort?
Dort haben wir sehr agile Akteure, die auf der moralisch richtigen Seite stehen möchten. So progressiv sich ein Milieu auch verstehen mag, in der Bundesrepublik durchziehen die Biografien der hier lebenden Menschen sehr, sehr weitreichend die Nichtaufarbeitung der NS-Vergangenheit im familienbiografischen Sinne. Aus der Forschung wissen wir, dass nur weniger als ein Prozent der Bevölkerung in der NS-Zeit sich widerständisch geäußert und Jüdinnen und Juden unterstützt hat. Das war marginal. Das heißt: 99 Prozent haben es nicht getan. Sie waren vielleicht nicht im handgreiflichen Sinne Täter und Mörder, aber doch Menschen, die in irgendeiner Weise an der antisemitischen Verfolgung teilgenommen, von ihr profitiert, sie unterstützt haben. Das durchzieht die gesamten Familienbiografien der Bundesrepublik bis heute. Egal, wo heute Selbstverortungen sein mögen. Daher ist es gerade in diesem progressiven Kulturmilieu besonders dramatisch, dass es hier eine antisemitische Positionierung gibt – weil man glaubt, etwas gelernt zu haben. Dabei offenbart sie einfach nur, dass die Aufarbeitung der Vergangenheit nicht stattgefunden hat, dass man nicht begriffen hat, dass der Antisemitismus das Kernelement des Nationalsozialismus ist und entsprechend der Kampf gegen Antisemitismus das Lernen aus der Geschichte ist und nicht irgendetwas anderes, das nur darauf abzielt, sich moralisch gut zu fühlen.

Was hat sich verändert, seitdem es Antisemitismusbeauftragte gibt?
Zunächst muss man angesichts von Jahrzehnten der systematischen Brache in Bezug auf Antisemitismusbekämpfung in Deutschland sagen: Es hat sich viel zu wenig getan. Aber es sind wichtige Schritte gemacht.

Was hat Sie in den anderthalb Jahren am meisten überrascht?
Diese unfassbar große Offenheit, egal auf welcher Ebene. Man erlebt ja sonst immer nur Abwehr, wenn es um Antisemitismus geht. Das ist ein bemerkenswerter, unerwarteter Erfolg. Nach meinen vielen Jahren in der Antisemitismusforschung habe ich nicht damit gerechnet, dass die Türen so weit offen sind. Ich dachte, sie seien fest verschlossen. Das kann ich für Berlin überhaupt nicht bestätigen: Es gibt ein großes Engagement, privates wie staatliches.

Hat das womöglich auch etwas mit Ihrer offiziellen Stelle zu tun? Finden die Worte eines offiziellen Antisemitismusbeauftragten eher Gehör?
Absolut. Das spielt eine ganz maßgebliche Rolle. Man darf nicht verkennen, wie wichtig es ist, dass es eine Ressortzuständigkeit gibt. Das gilt auch für andere Themenfelder, Stichwort Ökologie. Wenn es eine zugewiesene Zuständigkeit gibt und damit die Notwendigkeit der Einbeziehung in bestimmte Prozessfragen, verändert das auch die Wahrnehmung.

Geht die Einsetzung von Antisemitismusbeauftragten über Symbolwirkung hinaus?
Auf jeden Fall. Der Staat macht deutlich, dass er damit Strukturen geschaffen hat, um die Aufforderung zum Handeln auch in praktische Prozesse umzusetzen. Insofern ist es absolut zentral, dass diese Stellen geschaffen wurden. Denn damit ist das Thema Antisemitismus angekommen – in der öffentlichen Wahrnehmung und in der Politik.

Was haben Sie sich für 2022 vorgenommen? Wo wollen Sie Akzente setzen?
Wir müssen noch nachsteuern im Bereich der Erinnerungspolitik. Er wird oft übersehen, weil man glaubt, man hätte diese Auseinandersetzung bereits geleistet. Auf staatlicher Seite ist das der Fall, aber auf gesellschaftlicher überhaupt nicht. Die Nichtaufarbeitung der NS-Vergangenheit ist und bleibt eine zentrale Grundlage für heutigen Antisemitismus. Der zweite Teil, wo dringendes Handeln gefordert ist, ist der elementare Zusammenhang zwischen Verschwörungsmythen und Antisemitismus, also die Radikalisierung und Gewalttätigkeit der Proteste. Da wird man in Zukunft klarer, schneller und eindeutiger reagieren müssen.

Was wünschen Sie sich für Ihre Arbeit?
Ich hoffe, dass sich die Anregungen, die ich gebe, multiplizieren. Natürlich wäre der Wunsch, dass es irgendwann Ämter von Antisemitismusbeauftragten nicht mehr braucht. Das ist aber letztlich utopisch. Die gesamte Geschichte der Bundesrepublik ist eine von Erinnerungsabwehr, von Durchsetzung der Gesellschaft mit antisemitischen Ressentiments. Ziel ist es, das Bewusstsein so weit zu schärfen, dass solche Auseinandersetzungen stattfinden, ohne dass ich dafür etwas tun muss. Das wäre der Wunsch.

Mit dem Politikwissenschaftler und Ansprechpartner des Landes Berlin zu Antisemitismus sprach Katharina Schmidt-Hirschfelder.

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