Angesichts der erdrückenden Übermacht der Islamisten im ersten frei gewählten ägyptischen Parlament flüchtet man sich im Westen in die Hoffnung, angesichts wachsender wirtschaftlicher Probleme würden sie sich an der Macht selbst »entzaubern«.
Doch davon kann auf absehbare Zeit keine Rede sein. Zunächst muss überhaupt erst einmal die Macht vom herrschenden Militärrat an die demokratischen Institutionen abgegeben werden. Ob und unter welchen Bedingungen er dazu bereit sein wird, ist die zentrale Frage der nächsten Phase des ägyptischen Umbruchs.
Demokratie In dieser Auseinandersetzung befinden sich die Muslimbrüder in einer komfortablen Lage. Als klare Wahlsieger können sie sich als Speerspitze der Demokratie gegen die tyrannische Herrschaft der Militärs präsentieren. Gleichzeitig aber bieten sie sich der Armee als Bündnispartner an. Sind doch nur sie ausreichend organisiert, um die aufrührerischen Energien der ägyptischen Gesellschaft im Zaum zu halten.
Zudem: Ob sich die Islamisten jemals einer demokratischen Abwahl beugen würden, ist äußerst fraglich. Und würde Ägyptens Wählerschaft auf eine weitere Verschlechterung der ökonomischen Lage überhaupt so reagieren, wie westliches Wunschdenken es annimmt? Indem sie sich etwa plötzlich den marginalisierten – übrigens zum Großteil vehement antiisraelischen, wenn nicht offen antisemitischen – »liberalen Parteien« zuwendet?
Viel näher liegt, dass unter dem Einfluss der islamistischen Propaganda finstere ausländische Mächte für die Misere verantwortlich gemacht würden – in erster Linie Israel und »die Juden«. Auf wirtschaftlichen und sozialen Niedergang als Geburtshelfer politischer Vernunft zu setzen, ist fatal. Soziale Verzweiflung bringt die irrationalen Potenziale einer Gesellschaft erst recht zum Blühen. Und lieferte im Falle Ägyptens den Islamisten die Vorlage, ihre Anhänger für eine noch rigorosere »islamische« Gleichschaltung zu mobilisieren.
Der Autor ist Politischer Korrespondent der »Welt« und »Welt am Sonntag«.