Corona

Wer zuerst?

Nur eine von 100 zweimal geimpften Personen steckt sich trotzdem mit dem Coronavirus an Foto: Getty Images/iStockphoto

Die EU-Kommission hat Verträge mit bislang drei Pharmaherstellern ausgehandelt, die alle in den vergangenen Wochen vielversprechende Testdaten zur Wirksamkeit und Sicherheit ihrer Covid-19-Impfstoffe vorlegen konnten und damit realistische Chancen auf eine rasche Zulassung haben.

Auch wenn es noch viele offene Fragen gibt, ist die Zulassung in Deutschland ab Mitte Dezember zu erwarten. Schnellstmöglich sollen dann die ersten regionalen Impfstellen beliefert werden.

reihenfolge Laut ZDF-Politbarometer will sich gut die Hälfte der Bürger impfen lassen. Für eine breite Anwendung werden aber zunächst nicht genügend Impfstoffdosen zur Verfügung stehen, sodass Bund und Länder vorab entscheiden und gesetzlich regeln müssen, in welcher Reihenfolge geimpft werden soll.

Die für Auswahlkriterien maßgeblichen Grundlagen und ethischen, rechtlichen und praktischen Fragen haben Mitglieder des Deutschen Ethikrats, der nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina und der ständigen Impfkommission in einem gemeinsamen Positionspapier zusammengefasst. Darin betonen sie, dass bei Priorisierungsentscheidungen grundsätzlich eine »ausreichende Basisversorgung möglichst vieler« Vorrang vor einer »maximalen Bestversorgung einiger weniger« hat.

Neben dem Anspruch auf Gesundheits- und Lebensschutz jedes Einzelnen berücksichtigen die ethischen Grundsätze auch die Gerechtigkeit und vor allem die Solidarität.

Neben dem Anspruch auf Gesundheits- und Lebensschutz jedes Einzelnen berücksichtigen die ethischen Grundsätze der öffentlichen Gesundheitsfürsorge auch die Gerechtigkeit und vor allem die Solidarität unter den Mitgliedern der Gesellschaft. Die Covid-19-Impfung kann und soll in erster Linie die am stärksten Gefährdeten, also Angehörige der Hochrisikogruppe, selbst schützen.

wirtschaft Pandemiebedingte Schäden drohen aber längst nicht nur der Gesundheit von Individuen, sondern auch zwischenmenschlichen Beziehungen und der Wirtschaft. Kritisch wird es, wenn es überlebenswichtige Organisations- und Versorgungsstrukturen unserer Gesellschaft trifft und diese durch hohe Infektionsraten beim Personal handlungsunfähig werden.

Angesichts der großen mit Covid-19 verbundenen und ganz unterschiedlichen Gefahren ist es absolut angemessen, wenn aus sozialstaatlichen und Schutzpflicht-Überlegungen gesetzliche Verteilungsvorgaben für die Impfstoffe festgelegt werden, die sich allein nach der Dringlichkeit der Impfung, aber nicht nach dem Versicherungsstatus Einzelner oder den sonst üblichen Marktregeln richten. Bis hoffentlich im Laufe des kommenden Jahres ausreichend Impfstoff für alle verfügbar sein wird, wird es gestaffelte Impfphasen geben müssen.

Im Judentum besteht eine Verpflichtung, sein eigenes Leben durch Impfung zu schützen.

Zuerst soll Risikogruppen, also Alten, Pflegebedürftigen und Kranken, dann dem Personal aus Gesundheitsversorgung und Altenpflege sowie Menschen, die die kritische Infrastruktur aufrechterhalten oder ein hohes Ansteckungsrisiko haben, also zum Beispiel Polizisten, Feuerwehrleuten, Erziehern und Lehrern, die Möglichkeit zur Impfung angeboten werden. Für die breite Masse der Bevölkerung stehen dann voraussichtlich ab dem kommenden Sommer ausreichend Impfdosen bereit.

dringlichkeit Auch die rein jüdisch-medizinethische oder halachische Antwort auf die Frage, wem in der aktuellen Situation eine Impfung vorrangig ermöglicht werden soll, orientiert sich allein an der Dringlichkeit des Schutzes und dem Ausmaß der Gefährdung.

Vorübergehend den eigenen Anspruch auf raschen Gesundheitsschutz gegenüber stärker gefährdeten Personen oder der Leistungsfähigkeit der kritischen Infrastruktur zurückzunehmen, ist aus jüdischer Sicht also nicht bloß Ausdruck solidarischer Verantwortung, sondern die Erfüllung einer Mizwa. Die individuelle und gesellschaftliche Verpflichtung zur Gesundheitsprävention ist integraler Bestandteil der jüdischen Tradition.

In der säkularen Welt ist das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen Ausgangspunkt aller medizinischen Entscheidungen.

Die Halacha, das jüdische Religionsgesetz, kennt zahllose, sehr konkrete Vorschriften, die Gefahr für Leib und Leben abwenden sollen, und verpflichtet jeden unmissverständlich zum Erhalt eigener Gesundheit und zur Fürsorge für andere.

tora Schon in den Gesetzen der Tora finden sich viele fundamentale Prinzipien moderner Prävention und öffentlicher Gesundheitsfürsorge – wie Abstandsregeln und Quarantänemaßnahmen – wieder. Das Befolgen der Halacha kann in gewisser Hinsicht auch als praktizierte Präventivmedizin verstanden werden.

Nur eingeschränkt verfügbare präventive Mittel müssen vorranging denen angeboten werden, die ein signifikant erhöhtes Risiko für einen schweren oder tödlichen Verlauf haben. Aber auch Priorisierungen zum Schutz von Personen, die unersetzbare Schlüsselfunktionen in der Gesellschaft einnehmen, sind dem Judentum nicht fremd. Es gibt Kommentare halachischer Autoritäten, die unter Umständen dem Bewahren der Gemeinschaft als Ganzes Vorrang vor dem Schutz individueller Menschenleben geben.

In der säkularen Welt ist das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen Ausgangspunkt aller medizinischen Entscheidungen. Dort ist eine undifferenzierte und allgemeine Impfpflicht gegen Covid-19 nicht vorstellbar. Im Gegensatz dazu besteht im Judentum eine moralische Verpflichtung, sein eigenes Leben und das anderer durch die Impfung zu schützen und dafür auch mögliche Nebenwirkungen in Kauf zu nehmen.

Der Autor ist leitender Oberarzt und Vorsitzender des klinischen Ethikkomitees am Klinikum Bielefeld.

Kommentar

Erdoğans Vernichtungswahn ist keine bloße Rhetorik

Der türkische Präsident hat nicht nur zur Auslöschung Israels aufgerufen, um von den Protesten gegen ihn abzulenken. Deutschland muss seine Türkeipolitik überdenken

von Eren Güvercin  01.04.2025

Essay

Warum ich stolz auf Israel bin

Das Land ist trotz der Massaker vom 7. Oktober 2023 nicht zusammengebrochen, sondern widerstandsfähig, hoffnungsvoll und vereint geblieben

von Alon David  01.04.2025

USA

Grenell könnte amerikanischer UN-Botschafter werden

Während seiner Zeit in Berlin machte sich Grenell als US-Botschafter wenig Freunde. Nun nennt Präsident Trump seinen Namen mit Blick auf die Vereinten Nationen. Aber es sind noch andere im Rennen

 01.04.2025

Literatur

Schon 100 Jahre aktuell: Tucholskys »Zentrale«

Dass jemand einen Text schreibt, der 100 Jahre später noch genauso relevant ist wie zu seiner Entstehungszeit, kommt nicht allzu oft vor

von Christoph Driessen  01.04.2025

Judenhass

Todesstrafen wegen Mordes an Rabbiner in Emiraten

Ein israelischer Rabbiner wurde in den Vereinigten Arabischen Emiraten getötet. Der Iran wies Vorwürfe zurück, die Täter hätten in seinem Auftrag gehandelt. Drei von ihnen wurden zum Tode verurteilt

von Sara Lemel  31.03.2025

Vereinten Nationen

Zweite Amtszeit für notorische Israelhasserin?

Wird das UN-Mandat von Francesca Albanese um drei Jahre verlängert? Das Auswärtige Amt drückt sich um eine klare Aussage

von Michael Thaidigsmann  31.03.2025

Meinung

Marine Le Pen: Zu Recht nicht mehr wählbar

Der Ausschluss der Rechtspopulistin von den Wahlen ist folgerichtig und keineswegs politisch motiviert

von Michael Thaidigsmann  31.03.2025

Essay

Dekolonisiert die Dekolonialisierung!

Warum die postkoloniale Theorie jüdische Perspektiven anerkennen muss

von Lisa Bortels  31.03.2025

Türkei

Erdoğan: »Möge Allah das zionistische Israel zerstören«

Ein antisemitisches Statement von Präsident Recep Tayyip Erdoğan löst einen Streit mit dem jüdischen Staat aus

 31.03.2025