Noch donnern Maschinengewehrfeuer und Explosionen durch den Gazastreifen. Aber die Bodenoffensive der israelischen Armee kommt ihrem Ziel näher: die Terroristen der Hamas, die für die schlimmsten Massaker an Juden seit dem Holocaust verantwortlich sind, zu neutralisieren. Die Geschichte soll sich nicht wiederholen, Gruppierungen wie die Hamas nie wieder die Macht an sich reißen können.
Doch wer nach dem Krieg in Gaza die Trümmer aufräumen und die knapp zwei Millionen Bewohner regieren soll, ist noch immer unklar. Dabei hängt die Sicherheit Israels auf Jahrzehnte von der Beantwortung dieser Frage ab. Israels Premierminister Benjamin Netanjahu beharrt bisher darauf, dass die israelische Armee und die Geheimdienste auch nach der Bodenoffensive für die Sicherheit im Gazastreifen verantwortlich sein sollen. Wer den Küstenstreifen regieren soll, lässt er offen.
US-Außenminister Anthony Blinken würde am liebsten der Palästinensischen Autonomiebehörde eine zentrale Rolle in der neuen Regierung zuweisen. Netanjahu lehnt das jedoch kategorisch ab. »Gaza muss entmilitarisiert und entradikalisiert werden, und bisher haben wir keine palästinensische Kraft, die Autonomiebehörde inbegriffen, gesehen, die dazu in der Lage ist«, sagte er in einem TV-Interview.
»Die Autonomiebehörde müsste ihre DNA grundlegend verändern.«
Politologe Harel Chorev
Doch eine israelische Besatzung des Gazastreifens wäre katastrophal, warnt Toby Greene in einer Studie für das Begin-Sadat Center der Bar-Ilan-Universität. Soldaten dauerhaft zu stationieren, würde Israel zwar die Kontrolle über die Sicherheit in dem Küstenstreifen geben, aber die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten und anderen Verbündeten verschlechtern, die Abraham-Abkommen gefährden und die israelische Zivilbevölkerung noch tiefer spalten, schreibt er in der gemeinsam mit Professor Jonathan Rynhold verfassten Studie.
UNTERSTÜTZUNG Die israelische Regierung könne demnach aber auch die Hamas nicht einfach an der Macht lassen und zum Status quo ante zurückkehren. Das wäre ein Zeichen der Schwäche und damit die Einladung zu noch mehr Terrorattacken, auch vonseiten der Hisbollah.
Greene und andere Politikwissenschaftler raten deshalb dazu, die Hamas zu stürzen und Palästinenser die nächste Regierung bilden zu lassen – jedoch nicht den greisen Mahmud Abbas. »Die Autonomiebehörde ist tief korrumpiert, und wenn sie überhaupt eine Legitimität haben will, müsste sie ihre DNA grundlegend verändern. Und genau das ist fast unmöglich«, sagte Harel Chorev von der Universität Tel Aviv der Jüdischen Allgemeinen. »Das Wichtigste wäre, dass sie Terroristen und ihre Familien nicht mehr finanziell unterstützen.«
Chorev zufolge würden Exil-Palästinenser wie Mohammed Dahlan die besten Voraussetzungen mitbringen, um eine friedliche und stabile Regierung im Gazastreifen aufzubauen. Dahlan selbst lebt seit 2014 in den Vereinigten Arabischen Emiraten, weil er erst versucht hatte, das Hamas-Regime zu stürzen, und danach Abbas mehrfach kritisierte. Chorev zufolge hätte der Politiker drei Vorteile: langjährige Beziehungen zur israelischen Regierung, die finanzielle Unterstützung durch die Emirate und vor allem ein großes Netzwerk von Unterstützern im Gazastreifen.
PROBLEM Für Greene könnte die Autonomiebehörde dennoch ein Teil der Lösung sein – trotz Netanjahus Ablehnung. »Israel erlaubt der Autonomiebehörde, palästinensische Bevölkerungszentren im Westjordanland zu regieren. Man hat schon oft in Bezug auf den Gazastreifen mit ihr kooperiert, selbst seitdem die Hamas dort regiert. »Es braucht also nicht viel Vorstellungskraft, dass es noch einmal geschehen kann«, so Greene zur Jüdischen Allgemeinen. »Ein Teil des Problems ist, dass Netanjahu politisch von der extremen Rechten abhängt, die selbst moderate Palästinenser nicht akzeptieren würden. Deshalb müsste sie umgangen werden.«
Die Autonomiebehörde sollte aber im Gazastreifen im Gegensatz zum Westjordanland selbst keine Regierung bilden. »Abbas ist für die Palästinenser wenig glaubwürdig, also könnte es eine lokale palästinensische Führung sein, die von der Autonomiebehörde unterstützt wird«, so der Politikwissenschaftler weiter. Alleine wäre die Behörde dafür aber zu schwach und bräuchte deshalb die Hilfe der USA und ihrer Verbündeten. Die Vereinigten Staaten seien zwar nach den Misserfolgen im Irak und in Afghanistan abgeschreckt, doch der Gazastreifen sei etwas anderes, argumentieren Greene und Rynhold. Das Territorium ist viel kleiner und grenzt nur an Israel und Ägypten. Beide hätten ein aufrichtiges Interesse daran, eine stabile Regierung zu etablieren, die Ministerien und Institutionen von Grund auf neu organisiert.
KONKURRENTEN Im Gazastreifen wurde zuletzt 2006 gewählt. Seitdem hat die Hamas ihre Rivalen von der Fatah entweder vertrieben oder ermordet. Für Greene sind Wahlen deshalb erst mal auch keine Option. »Langfristig werden sie nötig sein, um die Legitimität der Autonomiebehörde wiederherzustellen, aber kurz- bis mittelfristig sollte die Stabilisierung des Gazastreifens absolute Priorität haben.«
Wie auch immer die nächste Regierung aussehen mag, für die Politikwissenschaftler steht fest, dass Israel für die Sicherheit im Gazastreifen verantwortlich sein sollte. »Es gibt einen Konsens in Israel, dass es die Kontrolle über die Sicherheit in seinen Händen behalten sollte. Wann immer die IDF oder Shin Bet in den Gazastreifen muss, um Menschen festzunehmen oder Terroranschläge zu verhindern, sollten sie das auch tun können«, sagt Chorev. »Danach sieht es im Moment aus, und ich halte das für vernünftig.«