Vor den Mauern der Synagoge in Halle wächst das Blumen- und Kerzenmeer in der Humboldt-Straße 52 kontinuierlich an. Es sind die Tage nach dem Terroranschlag.
Diese Zeichen der Solidarität könnten nun bald im Stadtmuseum ausgestellt werden. Es gebe dort bereits einen Ausstellungsbereich zum jüdischen Leben in Halle, sagt Oberbürgermeister Bernd Wiegand (parteilos). Dieser solle nun erweitert werden, wie genau stehe aber noch nicht fest.
Die Jüdische Gemeinde Halle will auch einen Beitrag dazu leisten. Briefe, Mails und Fotos sowie »alle« Symbole der Solidarität nach dem Anschlag sollen dem Museum übergeben werden, sagt der Gemeindevorsitzende Max Privorozki.
Am 9. Oktober hatte ein antisemitisch und rechtsextremistisch motivierter Attentäter versucht, am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur die mit mehr als 50 Betern besetzte Synagoge zu stürmen. Als das scheiterte, erschoss der 27-jährige Deutsche eine Passantin und kurz darauf einen jungen Mann in einem Dönerladen.
TRAUMA Zu diesem Zeitpunkt ist auch Christina Feist, 29, in der Synagoge. Die ersten Wochen nach dem Anschlag seien für sie sehr schwierig gewesen, erzählt sie. »Wenn ich in deine Augen sehe, dann ist niemand da«, habe ihr damals ein Freund gesagt. Nach einem längeren Kampf mit sich selbst, habe sie sich entschlossen eine Trauma-Spezialistin aufzusuchen, seither gehe es ihr deutlich besser, sie habe mittlerweile mehr gute als schlechte Tage.
Dennoch: Auch jetzt, rund 80 Tage nach dem Anschlag, laufen ihr manchmal ohne Grund Tränen die Wangen runter. »Daran muss man sich erst gewöhnen.« Während sie das erzählt, lacht die 29-Jährige. Ob sie Optimistin sei? Nein, eher Pragmatikerin, es müsse ja weitergehen. Neben Feist waren viele andere Bürger in Halle traumatisiert. Die Telefonseelsorge der Stadt war zwischenzeitlich doppelt besetzt.
KRISENMODUS Oberbürgermeister Wiegand hat den Attentäter nur knapp verpasst. Zum Zeitpunkt des Angriffs des Terroristen sei er beim Spatenstich einer Kita im Paulusviertel gewesen, wenige hundert Meter vom Angriffsort entfernt. Von dort aus sei er direkt zum Stab gefahren. »Dann schaltet man automatisch in den Krisenmodus«, erinnert er sich.
Für den Jahrestag des Terrors laufen bereits Überlegungen. Was genau passiere, könne noch nicht gesagt werden, sagt Privorozki. »Die Stadt wird an den 9. Oktober erinnern«, heißt es vom Oberbürgermeister. Fest stehe nur, dass man sich mit der Jüdischen Gemeinde abstimme.
PROJEKTE Wiegand kündigt weitere Veränderungen an: »Wir sind dabei, die jüdischen Kulturtage in Halle auszuweiten und stärker in die Gesellschaft zu integrieren«, sagt er. Der jährliche »Marsch des Lebens« werde stärker von der Stadt unterstützt, um größere Aufmerksamkeit auf jüdisches Leben in Halle zu richten. Zudem werde mit Projekten das Thema Demokratie in der Bevölkerung gestärkt.
»Die Stadtgesellschaft hat innegehalten. Die Gefahr, selber von einem Terroranschlag getroffen zu werden, ist jedem bewusst geworden«, sagt Wiegand. Auf den Veranstaltungen nach dem Anschlag habe sich gezeigt, dass die Bürgerinnen und Bürger zusammenhalten.
Nach dem Terrorangriff gibt es zahlreiche Reaktionen, Konsequenzen werden gefordert. Der SPD-Politiker Helge Lindh bezeichnet eine im Bundestag beschlossene Verschärfung des Waffenrechts im Zusammenhang mit dem Anschlag als Notwendigkeit. Der Bundestag bewilligt zudem vor knapp zwei Wochen 600 neue Stellen für BKA und Verfassungsschutz.
Der Angriff hat die Stadt erschüttert. Erste Konsequenzen wurden gezogen - weitere werden 2020 folgen.
»Es kann sein, dass der Verfassungsschutz mehr Stellen braucht«, sagt Feist. Was sie aber vermisse, sei ein langfristiger Plan. »Das ewige »Nie wieder« ist schön, aber verliert irgendwann an Glaubwürdigkeit.«
COURAGE Es brauche in erster Linie Bildungsarbeit. Es müsse immer wieder erklärt werden, was es bedeute, in einer offenen Gesellschaft zu leben, in einer Demokratie. Welche Rechte aber auch Pflichten dies beinhalte und dass wir alle aufeinander achten sollten - Stichwort Zivilcourage. »Ich bin immer wieder Ersthelferin, aber nicht weil ich der erste Mensch bin, der einen Verletzten sieht«, sagt Feist.
Natürlich sei es auch wichtig, in Schulen oder anderswo zu lehren, welche Traditionen und Gebräuche es im Judentum gebe. »Jüdisches Leben ist oft umgeben von einem Mythos. Viele wissen nicht, was das ist. Das ist der ultimative Nährboden für die abstrusesten Theorien«, betont die Doktorandin.
Während sie spricht, hängt an ihrem Hals ein silberner Anhänger über ihrem schwarzen T-Shirt. »Leben« steht dort in hebräischer Schrift. Es sei ein Geschenk nach dem Anschlag gewesen, sie habe es sofort angelegt und seitdem nie wieder abgenommen. Ihre Jüdischkeit verstecken, das kommt für sie nach dem Angriff noch weniger in Frage als vorher.