Köln war ein Moment des Staatsversagens. Die Bundesrepublik Deutschland stand eine Nacht lang auf einer Ebene mit Staaten, die die Kontrolle über ihr Territorium verloren haben, wie der Kongo, Libyen oder Ägypten während der »Arabellion«, als Frauen auf dem Tahrir-Platz zu Freiwild wurden. An Silvester hat der deutsche Staat die Kontrolle verloren – und die Bevölkerung zuckt vor Schreck zusammen.
Das aufgeklärte, weltoffene, streiterprobte, demokratische Gerüst der deutschen Gesellschaft wankt. Am deutlichsten spürt man das in den Sozialen Medien. Nicht auf den Seiten von Pegida, AfD und NPD, wo Unmenschlichkeit, Fremdenhass und Antisemitismus, mal offen, mal verschleiert, seit jeher ihre Heimat haben, sondern im eigenen digitalen »Freundes«-Kreis, wo wahlweise das Asylrecht, die Freizügigkeit, die Sozialleistungen für Kriegsflüchtlinge eingeschränkt oder gleich ganz abgeschafft werden. »Abschiebung« scheint bereits Mitte Januar der heißeste Kandidat für das »Wort des Jahres 2016«.
Waffenhandel Das deutsche Staatsversagen hat eine Vorgeschichte. Wahrscheinlich begann es 1990, als der Staat sich trotz des späteren Solidaritätszuschlags bei den »Kosten der Einheit« verhob. Oder etwas später, als die Jugend aus den »blühenden Landschaften« des Ostens wegzog. Oder noch später, als in Deutschland Brücken und Schienen zu verrotten begannen, als die Städte begannen, Jugendzentren und Sportstätten zu schließen, die Länder massenhaft Stellen bei der Polizei abbauten, als die Mühlen der Justiz immer langsamer mahlten und der Waffenhandel in albanische, der Drogenhandel in nordafrikanische Hände fiel.
Das deutsche Staatsversagen hat damit zu tun, dass es seit 25 Jahren nicht gelingt, »gleichwertige Lebensverhältnisse« zwischen Brandenburg und Hessen, zwischen München und Duisburg herzustellen. Dass immer weniger junge Menschen, egal ob bio-deutsch oder bio-sonstwas, erfahren, dass sie akzeptiert sind, gebraucht werden, dass sie wichtig sind.
Und nicht überall versagt der Staat gleichermaßen. Diese Erkenntnis speist sich nicht aus Häme, vielmehr aus Entsetzen. Man vergleiche nur die Aufnahme von Flüchtlingen in bayerischen Gemeinden mit dem Chaos vor dem Berliner Lageso.
»Köln wäre in München nicht passiert.« Den Satz schnappe ich im Regionalzug auf. Ist womöglich die Münchener Synagoge besser geschützt als die Kölner? Das aus den Ereignissen am Hauptbahnhof zu folgern, ginge entschieden zu weit, aber der Gedanke kann einem schon mal kommen.
Vertrauen Es gibt für Juden in Deutschland jedenfalls kein schlimmeres Trauma, als erneut mitzuerleben, wie das liberale Bürgertum der demokratischen Republik Leserbrief für Leserbrief das Vertrauen entzieht. Noch fürchtet die Mehrheit der Deutschen dies ebenso. Es mag an meiner Biografie liegen, dass mir immer wieder Bilder aus jener Zeit hochkommen, in der meine Eltern und Großeltern zu Flüchtlingen wurden.
Der 17. Juli 1932, später »Altonaer Blutsonntag« genannt, war in der Weimarer Republik ein Höhepunkt des Staatsversagens. Im sozialdemokratisch regierten Preußen genehmigte der Polizeipräsident einen Marsch der SA durch ein kommunistisches Wohnviertel. 18 Menschen starben. Daraufhin setzte die Reichsregierung die preußische Regierung ab, und die SPD, seit dem Weltkrieg immer stärkste Partei in Deutschland, verlor das Kommando über die preußische Polizei. Die demokratische Republik war plötzlich wehrlos. Es waren solche Momente des Staatsversagens, die das Bürgertum verunsichert und in die Arme der NSDAP getrieben haben. Ein halbes Jahr später kam Hitler legal an die Macht.
Facebook und Twitter Historische Vergleiche hinken. Köln ist nicht Altona. In den Sozialen Medien wird gehetzt, nicht geschossen. Dennoch brennen Flüchtlingsheime, und auch die Nazis von heute wissen, wie man Schusswaffen benutzt. Nicht auszudenken, was passierte, wenn Millionen Menschen auf der Flucht vor Kriegen zu uns kommen, während gleichzeitig durch unerwartet harte Nachbeben der Eurokrise die Staatsverschuldung explodiert und ein Einbruch der Weltwirtschaft die Börsen, Banken und Vermögen der Deutschen in den Abgrund zieht.
Noch muss sich die Polizei keine mörderischen Straßenschlachten liefern, weder mit nordafrikanischen Kriminellen noch mit sächsischen Patrioten. Es wäre schon viel gewonnen, wenn der Bundesjustizminister die Volksverhetzer im Internet unter Kontrolle bekäme. Doch das schafft er nicht.
Und Angela Merkel ist als einsame Integrationsfigur überfordert, das bürgerliche Spektrum von nationalkonservativ über wirtschaftsliberal, sozialliberal bis radikaldemokratisch hinter diesem Staat zu versammeln. Das schafft sie nicht. Der Staat muss wieder die Kontrolle übernehmen – in Köln, in Dresden, auf Facebook, überall da, wo Frauen, wo Flüchtlinge, wo Menschen auf Unmenschen treffen.
Der Autor ist Redakteur des WDR Köln und Autor des Buches »Der Jude mit dem Hakenkreuz: Meine deutsche Familie«, Aufbau, Berlin 2014.