Diaspora

Wem gehört die Kotel?

Ort des Gebets: die Westmauer des Jerusalemer Tempelbergs Foto: Flash 90

Junge amerikanische Juden, die politisch links sind, können einem ziemlich auf die Nerven gehen. Das Hauptproblem mit ihnen ist, dass sie einfach alles wissen. Sie wären zwar nicht imstande, Maale Adumim auf einer Landkarte zu finden, und haben keinen Schimmer, wo Nablus liegt – aber dafür wissen sie ganz genau, wie der israelisch-palästinensische Konflikt zu lösen wäre. Ihnen ist sonnenklar, wer an dem nahöstlichen Schlamassel schuld ist: die Siedlungen. Die Besatzungspolitik. Netanjahu.

Die Israelis müssten sich einfach aus dem Westjordanland zurückziehen, die Siedlungen müssten (inklusive Maale Adumim) dem Erdboden gleichgemacht werden, die Palästinenser einen eigenen Staat bekommen. Eins, zwei, drei – fertig!

Camp David Jene jungen amerikanischen Juden, die politisch zuverlässig progressiv sind, in jeder Frage, in jedem Moment ihres Lebens, halten keinen Moment lang inne, um sich folgende Frage vorzulegen: Wenn der Konflikt so einfach zu lösen wäre – warum, bitte, ist er dann nicht längst gelöst? Immerhin hat ein gewisser Ehud Barak den Palästinensern vor 17 Jahren in Camp David rabiate Zugeständnisse auf einem silbernen Tablett serviert.

Die Antwort von Jassir Arafat war, dass er wütend den Verhandlungstisch umwarf und einen schmutzigen Krieg gegen die israelische Zivilbevölkerung begann – die sogenannte zweite Intifada. Aber daran können die jungen, progressiven amerikanischen Juden sich partout nicht erinnern. Genauer gesagt, sind sie damals noch zur Vorschule gegangen; und seither hat sich nie jemand die Mühe gemacht, sie über diese kleine, aber folgenreiche Episode aufzuklären. Dabei findet sie sich ganz wunderbar etwa in der Autobiografie von Bill Clinton beschrieben.

Die jungen amerikanischen Juden begehen immer wieder denselben Kardinalfehler: Sie projizieren die Geschichte der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung auf den Nahen Osten. Aber die Israelis sind keine weißen, rassistischen Südstaatler – und die Palästinenser keine Nachkommen von unterdrückten schwarzen Sklaven. Die Hamas ist nicht die Twelfth Baptist Church in Boston, der Martin Luther King angehörte. Wenn man überhaupt eine historische Analogie ziehen möchte, dann funktioniert sie gerade umgekehrt: Für Juden im Nahen Osten ist die Hamas das, was der Ku-Klux-Klan für die Schwarzen in den Südstaaten war: eine Terrororganisation, die Lynchjustiz praktiziert.

Also: Progressive junge jüdische Amerikaner täten gut daran, wenn sie öfter mal den Mund halten, sich auf ihren Tuches setzen und ein paar kluge Bücher lesen würden. In einem Punkt allerdings haben sie vollkommen recht – die Art, wie die gegenwärtige israelische Regierung mit der Kotel umgeht, ist ein Skandal.

Wahrheit Fangen wir mit einer fundamentalen Wahrheit an. Die Westmauer des Tempelberges gehört nicht dem israelischen Staat. Dieser Platz vor den von der Sonne gebleichten Steinen, der nach Meinung der meisten religiösen Autoritäten der heiligste Ort des Judentums ist, gehört dem gesamten jüdischen Volk. Er gehört der jüdischen Gemeinde in Anchorage, Alaska, ebenso wie den Juden in New York, Berlin und Paris.

Und es geht hier nicht um komplizierte Fragen der militärischen Sicherheit: Wer bequem in der Diaspora sitzt und sich keine Sorgen machen muss, dass morgen seinen Kindern Raketen um die Ohren fliegen, der hat kein Recht, die Einwohner von Kirjat Schmona oder Beer Sheva darüber zu belehren, welches Risiko sie seiner Meinung nach um des lieben Friedens willen auf sich zu nehmen hätten. Gar keins. Aber darum geht es in der Frage, wer wo und auf welche Weise in der großen Freiluftsynagoge vor der Kotel beten darf, ja überhaupt nicht.

Der israelische Premierminister hatte versprochen, dass ein Abschnitt vor der Westmauer eingerichtet werden sollte, an dem Männer und Frauen gemeinsam beten dürfen. Dieses Versprechen hat er nun flugs wieder zurückgenommen, um die Ultrafrommen nicht zu verärgern. Und das ist in jeder Hinsicht falsch. Die Kotel gehört eben nicht nur den frommen Leuten in Geula, Jerusalem. Sie gehört in demselben Maße auch dem egalitären Minjan von Rogers Park in Chicago, Illinois. Jüdische Frauen haben ein Recht darauf, an der Kotel ihren Tallit überzuziehen und ihre Amida zu sagen; und die israelische Polizei hat die Pflicht, sie vor jungen ultrareligiösen Rabauken zu beschützen.

Moral Dass Netanjahu sein Versprechen gebrochen hat, ist nicht nur aus moralischen Gründen falsch. Es ist auch ganz praktisch unklug. Denn die jungen, progressiven amerikanischen Juden, von denen am Anfang die Rede war, sind ja nicht auf ewig unbelehrbar.

Vielleicht könnte man sie dazu bringen, den Staat Israel irgendwann als das zu sehen, was er ist: das einzige Land auf der Welt, in dem Juden ihr eigenes Schicksal in die Hand genommen haben – das einzige Land, in dem Juden unter allen Umständen willkommen sind. Aber wie soll das gelingen, solange Reformjuden aus Amerika und Israel, die an der Kotel ihre Traditionen praktizieren wollen, buchstäblich mit vollen Kinderwindeln beworfen werden?

Der Autor ist Journalist und Schriftsteller. In Kürze erscheint von ihm »Nach uns die Pinguine. Ein Weltuntergangskrimi«.

Washington D.C.

Netanjahu berät über Verhandlungen der Hamas

Die Verhandlungen über die zweite Phase des Geisel-Deals hätte schon am Montag beginnen sollen

 04.02.2025

Kommentar

Hoffen wir, dass Donald Trump einen Plan hat

Der US-Präsident hätte nichts dagegen, wenn Israel Teile des Westjordanlands annektieren würde. Was will er damit bezwecken?

von Nils Kottmann  04.02.2025

Interview

»Es wäre zu schwer, um es weiterhin an meiner Jacke zu tragen«

Der Schoa-Überlebende Albrecht Weinberg möchte sein Bundesverdienstkreuz zurückgeben - aus Protest gegenüber dem Antrag der Unionsfraktion zur Asylpolitik

von Christine Schmitt  04.02.2025

Kassel

Kunsthochschule zeigt Terror-verherrlichende Ausstellung

Die Hochschule bot einem Mann eine Plattform, der einen Hamas-Terroristen zum »Superhelden« erklärte. Jüdische Studenten sind entsetzt

von Imanuel Marcus  04.02.2025

Berlin

»Es gibt einen Judenhass, der uns alle tief beschämt und gegen den wir bisher viel zu zögerlich vorgegangen sind«

Wo bleibe der Aufstand der Anständigen bei dieser Ausprägung des Antisemitismus, fragt der CDU-Chef

 04.02.2025

Berlin

Merz schließt jede Zusammenarbeit mit AfD aus

Der CDU-Chef erneuert auf dem Wahlparteitag ein klares Versprechen

von Jörg Blank  04.02.2025

Meinung

Das erdrückende Schweigen der »Anständigen« beim Thema Antisemitismus

Hunderttausende demonstrieren gegen Rechtsextremismus und skandieren »Nie wieder ist jetzt«. Doch beim Antisemitismus sind sie erstaunlich still

von Ralf Balke  03.02.2025

TV-Kritik

»Diese ganze Holocaust-Anheftung an die AfD ist nervtötend«

AfD-Chefin Alice Weidel fiel bei »Caren Miosga« erneut mit fragwürdigen Aussagen zur NS-Zeit auf

von Michael Thaidigsmann  03.02.2025

Nach Interview-Eklat

»Schämen Sie sich!« - Ron Prosor kritisiert »Spiegel«

Der israelische Botschafter wirft dem Nachrichtenmagazin vor, es habe einem »von Selbsthass zerfressenen« Israeli die Bühne überlassen – und dies ausgerechnet am Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust

von Imanuel Marcus  03.02.2025