Historiker sagen nicht gerne, die Geschichte wiederholt sich. In der Tat macht man es sich zu einfach, wenn man behauptet, das war ja alles schon einmal dagewesen. Denn wenn man genau hinsieht, war dann alles doch ein bisschen anders. Für die Menschen gab es nach dem Ersten Weltkrieg kein früheres Modell deutscher Demokratie, auf das sie zurückblicken konnten.
Die Weimarer Republik bestand gerade einmal 14 Jahre, davon waren die ersten fünf vom Chaos der politischen und wirtschaftlichen Instabilität der Nachkriegszeit und Inflation gezeichnet, die letzten drei von einer Präsidialregierung ohne parlamentarische Mehrheiten. Extrem Rechte und extrem Linke machten eine demokratische Regierungsbildung unmöglich. Straßenkämpfe paramilitärischer Gruppen kennzeichneten die Jahre vor 1933. All dies haben wir heute (noch?) nicht. Vor allem aber wissen wir heute eines, was die Menschen damals nur erahnen konnten: was der Niedergang einer Demokratie für Deutschland bedeutet.
radikalisierung Können wir uns ob dieses besseren Wissens zurücklehnen und aufatmen? Gewiss nicht. Denn der Himmel über Deutschland und ganz Europa verdunkelt sich derzeit bedrohlich. Auch zu Beginn der 30er-Jahre waren die politische Radikalisierung und die Erfolge von linken und rechten Populisten kein deutsches Phänomen. Schon lange hatte sich der Faschismus in Italien festgesetzt, und autoritäre Regimes beherrschten die meisten gerade neu geschaffenen Staaten Ostmitteleuropas.
Nationalistische Parolen zogen die Massen an. Diese Tendenzen beobachten wir heute wieder. Und das, obwohl wir wissen, wie Europa in den 30er-Jahren in seine furchtbarste Katastrophe hineingeschlittert ist!
Auch während der letzten Tage der Weimarer Republik fiel es schwer, zu sehen, was die Zukunft bringen würde. Noch am 24. Januar 1933 saßen deutsche Staatsbeamte und jüdische Gemeindeführer vereint beisammen, um ein großes jüdisches Kulturereignis zu feiern. An diesem Tag öffnete nämlich das Jüdische Museum zu Berlin mit einer feierlichen Zeremonie seine Pforten. Und am 2. März besuchte eine preußische Regierungsdelegation das Museum.
reichstag Wenige Häuserblocks vom ausgebrannten Reichstag entfernt und wenige Tage vor Hitlers definitivem Wahlsieg äußerte sich der Delegationsleiter, Ministerialdirektor Trendelenburg vom preußischen Kultusministerium, begeistert »über die Einrichtung des Museums und den Reichtum an großen jüdischen Kunstwerken«. Heute kann man darüber den Kopf schütteln, dass niemand das Gewitter sah, das über ihren Köpfen aufzog. Doch kann man den Menschen wirklich vorwerfen, dass sie die Zukunft nicht richtig vorhersahen?
Liest man die jüdischen Zeitungen vom Januar 1933, so herrschte überall die Zuversicht vor, dass ein Hitler doch niemals ernst genommen und zum Reichskanzler gemacht werden würde. Als es dann tatsächlich geschah, war man überzeugt davon, dass Hitler sein radikales Programm ja ohnehin nie würde umsetzen können und dass Reichspräsident Hindenburg notfalls das Schlimmste verhindern würde.
Geschichte wiederholt sich nicht. Aber wenn wir sehen, wie fahrlässig unsere Gesellschaft heute mit den Lehren aus der Geschichte umgeht, muss man sich schon Sorgen machen. Natürlich zieht jeder seine eigenen Lehren aus den Geschichtsbüchern, aber bis vor wenigen Jahren gab es in Deutschland zumindest einen Grundkonsens darüber, was auf der politischen Ebene aufgrund der deutschen Geschichte tabuisiert ist.
tabu Dieses Tabu wurde spätestens mit dem Einzug der AfD in den Bundestag gebrochen. Und bis vor ganz kurzer Zeit gab es zumindest eine einheitliche Linie der demokratischen Parteien bezüglich des Umgangs mit der AfD. Wenn aber Minister führende Staatsbeamte, die den Rechtsextremen Argumente liefern, mit der Beförderung ihrer Karriere belohnen wollen, so ist das für die demokratische Grundstimmung in diesem Land katastrophal.
Selbst wenn wir die Geschichte noch so gut studieren, ist das keine Garantie dafür, morgen alles besser zu machen. Wenn wir aber die Geschichte ignorieren, dann können wir sicher sein, dass einiges Porzellan zu Bruch gehen wird. Noch haben wir keine »Weimarer Verhältnisse«. Regierungen zu bilden ist zwar nicht mehr so leicht wie vor wenigen Jahren noch, aber zumindest gibt es im Unterschied zu 1930 eine deutliche demokratische Mehrheit.
Und diese sollte ruhig selbstbewusster auftreten. Denn eigentlich wissen wir genau, was wir zu tun haben: aufzustehen und die Demokratie zu verteidigen. Wir haben gelernt, dass sich keine Demokratie ohne den Einsatz der Demokraten retten kann. Genauso selbstverständlich sollte es sein, sich aktiv dafür einzusetzen, ein in seinen Grundfesten angegriffenes vereintes Europa zu erhalten, das auch seine Minderheiten respektiert. Und wir müssen uns mit aller Kraft von den politischen Opportunisten distanzieren, die genau jene salonfähig machen, die all diese Werte gefährden.
Bedrohlich wird es, wenn innerhalb der demokratischen Mehrheit wegen einiger Prozentpunkte bei den nächsten Landtags- oder Bundestagswahlen mit dem Feuer gespielt wird. Man kann nur hoffen, dass in 50 Jahren die Historiker nicht sagen werden: Konnten die Menschen denn wirklich nicht sehen, was sie da im Jahre 2018 oder 2019 angerichtet haben?
Der Autor ist Professor für Jüdische Geschichte und Kultur.