Milwaukee, wo dieses Jahr die Krönungsmesse stattfand, auf der Trump zum Präsidentschaftskandidaten der Republikanischen Partei gekürt wurde, liegt am Ufer des Lake Michigan, der eigentlich kein See ist, sondern ein Meer aus Süßwasser.
Mitten durch die Stadt fließt der Milwaukee River, der die Innenstadt während des Parteitags sozusagen in zwei verfeindete Lager teilte: Auf der einen Seite vom Fluss war alles militärisch abgeriegelt. Nicht nur Autos wurden umgeleitet; auch Fußgänger wurden im von Metallzäunen abgeriegelten Bereich nur dann geduldet, wenn sie vom amerikanischen Secret Service ausgestellte Plastikpässe um den Hals trugen.
Auf der anderen Seite des Flusses aber versammelten sich die Anti-Trump-Demonstranten – ein kümmerlicher Haufen von vielleicht 100 Menschen. Palästinaflaggen wehten. Auf Plakaten wurde dazu aufgerufen, den angeblichen Genozid im Gazastreifen zu stoppen. Ordner hatten sich, obwohl eine Affenhitze herrschte, den karierten Palästinenserfeudel fest um den Hals geschlungen.
Mit der jüdischen Geschichte hat Milwaukee insofern zu tun, als Golda Meir hier aufgewachsen ist.
Mit der jüdischen Geschichte hat Milwaukee insofern zu tun, als Golda Meir hier aufgewachsen ist. Golda Meir, die 1969 israelische Premierministerin wurde; Golda, die kurz vor der Jahrhundertwende als Golda Mabelson in Kiew geboren wurde. Ihre erste Erinnerung war, wie ihr Vater die Eingangstür ihrer Wohnung mit Holzplanken zunagelte, weil er ein Pogrom fürchtete; Golda Meir zog daraus den Schluss, dass Juden nie mehr wehrlos sein dürfen.
Gleichheit und Gerechtigkeit
Als Teenager zog sie von zu Hause aus und lebte bei ihrer älteren Schwester in Denver. Dort wurde sie nicht nur zur Zionistin, sondern auch zur Sozialistin: Sie war zeitlebens eine gestandene Linke – für starke Gewerkschaften, für Gleichheit und Gerechtigkeit. Die einzige progressive Sache, für die Golda Meir sich nie einspannen ließ, war der Feminismus. Als sie Premierministerin wurde, hieß es über sie, sie sei »der einzige richtige Mann im Kabinett«.
Viele haben ihr später übelgenommen, dass sie in einem Interview erklärte: »Für uns gab es die Palästinenser nicht.« Dabei beschrieb sie damit nur eine autobiografische Realität. Als der ägyptische Präsident Anwar al-Sadat Jerusalem besuchte, um vor der Knesset zu sprechen, tauschten die beiden Fotos ihrer Enkelkinder aus: Golda Meir hatte den dringlichen Wunsch, mit den Arabern in Frieden zu leben. Durch Geheimdokumente, die mittlerweile veröffentlicht wurden, wissen wir heute: Nur drei Jahre nach dem Ende des Sechstagekrieges fasste Golda Meir die Möglichkeit eines Palästinenserstaates im Westjordanland, vielleicht auch in Gaza ins Auge. Sie war das Gegenteil einer Fanatikerin. Sie war durch Tatsachen belehrbar.
Natürlich ist es immer schwer, sich auszurechnen, wie eine historische Figur auf aktuelle Probleme reagiert hätte. Aber beim Überschreiten des Grenzflusses zwischen der trumpistischen und der antitrumpistischen Seite des Milwaukee-Flusses drängte sich dann doch die Frage auf, was Golda Meir, die Zionistin und pragmatische Linke, heute denken würde. Dass die Demonstranten mit den Palästinenserfeudeln bei ihr nur schnaubende Verachtung ernten würden, versteht sich von selbst.
Realpolitische Vernunft
Was aber ist mit Trump und seinen Anhängern? Würde Golda Meir sich mit der Kälte der realpolitischen Vernunft sagen: Der Mann ist für Israel, deshalb sollten wir ihm im November den Sieg wünschen? Auch wenn er schon jetzt ankündigt, dass er den amerikanischen Rechtsstaat und die Demokratie in die Tonne treten will? Das sind inneramerikanische Angelegenheiten, die uns nicht kümmern müssen, solange die Amerikaner uns weiter mit Geld und Waffen unterstützen? Oder würde Golda Meir sagen: Wenn die Vereinigten Staaten unter Trump im Chaos versinken, kann das Israel letztlich nur schaden? Würde sie sich an den jungen Senator erinnern, der sie 1973 fünf Wochen vor dem Jom-Kippur-Krieg besuchte, den sie nach manchen Berichten als »Sohn« ansprach und der Joe Biden hieß?
Eigentlich kann niemand bezweifeln, wessen Partei Golda Meir ergreifen würde.
Was würde die Frau, die 1948 in einer Zeit, in der Stalin begann, die Mitglieder des Jüdischen Antifaschistischen Komitees erschießen zu lassen, als Botschafterin in Moskau lebte, über den russischen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine denken? Würde sie sagen: Das kann uns Juden egal sein? Fände sie abstoßend, dass die heutige Republikanische Partei sich im großen Ganzen für Putin ausspricht? Dass eine zweite Amtszeit von Donald Trump wahrscheinlich das Aus für die NATO bedeuten würde?
Wäre für Golda Meir, deren politische Karriere in einer Zeit begann, als Israel noch freundschaftliche Kontakte mit vielen afrikanischen Staaten pflegte, der offene Rassismus von Trump und seinen Anhängern ein Problem? Würde sie sagen: Wen kümmert’s, schließlich gibt es auch jede Menge schwarze Antisemiten? Oder würde sie sagen: Ein Israel, dessen einzige Verbündete in Amerika christliche Nationalisten sind, hat ein gewaltiges Problem? Und zwar nicht nur ein moralisches, sondern vor allem ein politisches Problem? Denn weiße Minderheitsregimes pflegen – siehe die Apartheid in Südafrika – nicht zu überdauern. Wenn Israel keine Verbündeten in der schwarzen und hispanischen Community in Amerika findet, wird es am Ende furchtbar allein dastehen.
Eigentlich kann niemand bezweifeln, wessen Partei Golda Meir ergreifen würde: Sie wäre gewiss nicht auf der Seite der Pro-Hamas-Dummköpfe, aber auch nicht auf der Seite von Trump. Sie stünde auf der Brücke, die über den Milwaukee River führt. Genau in der Mitte.