Herr Conrad, wie konnte dieser massive Angriff der Hamas auf israelisches Gebiet erfolgen, ohne dass jemand etwas ahnte?
Die Hamas trat in den letzten beiden Jahren operativ nicht mit sonderlich eindrucksvollen Aktionen in Erscheinung. Inzwischen wird bereits kolportiert, dass dies bewusst geschah, um Israel in Sicherheit zu wiegen, während man sich ertüchtigte und militärische Vorbereitungen durchführte. Das wurde unter strikter Geheimhaltung mit einem sehr kleinen Kreis von Eingeweihten gemacht.
Geht das denn so einfach in Gaza?
Israel ist zwar sehr gut in der Penetration des Gazastreifens, in der Lagefeststellung und auch in der technischen Überwachung. Aber Trainingsmöglichkeiten gibt es zuhauf auch im Libanon und nötigenfalls im Iran. Sie dürfen nicht vergessen: Wir reden nicht über eine große Anzahl von Personen, die direkt in die Planung involviert sind. Das ist erst einmal eine Stabsoffizierstätigkeit, das können Sie mit einer sehr überschaubaren Zahl von Menschen machen. Die Operation, die wir gesehen haben, war zwar verheerend für Israel. Sie ging aber über einen begrenzten taktischen und räumlichen Umfang nicht hinaus. Und die Hamas-Leute hatten offensichtlich gelernt, wie man nicht auffällt. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass sie alle ihre Übungen in einem operativen Zusammenhang in Gaza durchgeführt haben.
Kann man sich denn frei bewegen zwischen dem Gazastreifen und dem Libanon?
Man kann Menschen exfiltrieren, über die noch verbliebenen Tunnel nach Ägypten oder auch durch eine Schleusung über die Grenze. Aber nur in kleiner Zahl. Hamas-Führer verlassen regelmäßig den Gazastreifen und kommen später wieder zurück. Die gehen über Ägypten raus und rein. Es ist also möglich. Denken Sie auch an Gilad Shalit, den israelischen Soldaten. Fünf Jahre lang konnte die Hamas ihn in Gaza vor dem israelischen Zugriff verbergen.
Haben Israels Nachrichtendienste versagt?
Ich weiß nicht, ob und inwiefern israelische Dienste Teile der Vorbereitungshandlungen erfassen konnten. Aber denken Sie immer daran: Sie müssen auch ein bestimmtes Lagebild haben, in das sich gewisse Dinge einfügen und damit Indizwirkung bekommen. Ganz offensichtlich nahm niemand an, dass die Hamas in der Lage sein würde, eine derart koordinierte, massive Militäroperation, also einen Durchbruch durch die Grenzbefestigungen an gleich mehreren Stellen, durchzuführen.
Lag es nicht auch daran, dass die israelischen Grenztruppen im Westjordanland im Einsatz waren und die Grenze zu Gaza vernachlässigt wurde?
Natürlich werden Sie Ihre Kräfte anders einsetzen, wenn Sie Grund zur Annahme haben, dass so etwas geschehen kann. Man wird das später genau analysieren müssen. Auf Basis der mir zugänglichen Informationen fällt doch auf, dass die israelischen Landstreitkräfte und auch die Kampfhubschrauber überdurchschnittlich lange brauchten, bis sie vor Ort waren. Die Hamas konnte ihren Operationsplan also sehr effektiv umsetzen. Sie konnte 22 verschiedene Orte, inklusive der Stadt Sderot, angreifen und zeitweise besetzen. Für mich sieht das so aus, als habe jeder gewusst, was er zu tun habe, wo er hingehen würde und was er dort machen solle.
War das Ziel in erster Linie, viele Geiseln zu nehmen? Oder möglichst viele Israelis umzubringen?
Beides. Es ging um capture and kill, das ist ganz offenkundig. Die Terroristen konnten nur eine begrenzte Zahl an Geiseln nehmen und in den Gazastreifen verschleppen. Alle anderen in Reichweite wurden abgeschlachtet.
Sie waren mehrfach als Vermittler in Nahost tätig, auch mit der Hamas in Gaza. Was passiert jetzt mit den Geiseln?
Das ist völlig offen. Möglicherweise weiß die Hamas selbst noch nicht, was sie mit den Menschen machen wird. Man hat da offenbar gegriffen, wen man in der Schnelle greifen konnte. Ob geplant war, dass man auch Frauen, Kinder und ältere Menschen entführt, das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich nehme an, die 150 oder so, die bei Hamas jetzt gefangen sind, werden in Kategorien eingeteilt. Wichtig sind für die Hamas vor allem die Soldaten. Es soll auch ein höherer Offizier darunter sein, habe ich gelesen. Damit werden sie versuchen, wie schon bei Gilad Shalit, in israelischen Gefängnissen inhaftierte Hamas-Kämpfer freizupressen.
Und die anderen?
Das ist unklar. Da wird die Frage der Doppelstaatler eine Rolle spielen. Was machen Sie mit amerikanisch-israelischen oder mit deutsch-israelischen Staatsangehörigen? Es ist noch zu früh, vorherzusagen, wo das hinläuft. Ich hoffe aber, dass wenigstens die Frauen und Kinder halbwegs vernünftig behandelt werden. Obwohl man sich dessen angesichts des schrecklichen Massakers von 260 Festivalbesuchern nicht sicher sein kann ...
Wird die Hamas überhaupt bereit sein zu verhandeln?
Ich denke, sie wird zum frühestmöglichen Zeitpunkt – nach Ende israelischer Kampfhandlungen – versuchen, wieder in einen Verhandlungs- oder zumindest Gesprächsmodus zu kommen. Und darüber hinaus wird sie versuchen, positive Nebengeräusche zur Schadensminimierung zu machen. Sie wird Dinge sagen wie »Die Geiseln werden gut behandelt« und so weiter. Aber es besteht durchaus auch eine Gefahr, dass die Hamas die Geiseln als menschliche Schutzschilde missbraucht, im schlimmsten Fall auch ostentativ. Die Hamas wird signalisieren: Falls ihr uns derart militärisch unter Druck setzt, seid ihr selbst schuld, wenn den Geiseln etwas zustößt. Entsprechende Drohungen sind ja inzwischen auch schon ausgesprochen worden.
Welche Ziele verfolgt die Hamas eigentlich mit den Geiseln?
Ihr Ziel wird es sein, wie schon im Fall Shalit möglichst viele ihrer Leute aus israelischen Gefängnissen freizubekommen. 2011 bekam die Hamas 1027 Gefangene im Austausch gegen Gilad Shalit. Wenn Sie diesen Deal, den ich mitverhandelt habe, auf heute übertragen, müssten Zehntausende palästinensischer Gefangener freikommen. Das wäre natürlich völlig absurd, auch angesichts des Umstands, dass zurzeit »nur« rund 4500 Sicherheitshäftlinge in israelischem Gewahrsam sind. Aber die Hamas wird es zumindest versuchen.
Glauben Sie, die Geiseln könnten gefoltert werden?
Man kann es nicht sicher sagen. Gilad Shalit ist halbwegs manierlich behandelt worden. Den einen oder anderen Gewaltexzess kann man dennoch nicht ausschließen, gerade in den ersten Stunden und Tagen nach der Entführung. Es sind da extrem abscheuliche Dinge passiert. Hassausbrüche sind zwar unprofessionell, aber sie kommen in dieser Weltgegend leider vor – vor allem, sollte sich die militärische Lage zulasten der Hamas verschärfen.
Was würden Sie in dieser Situation tun, um die Geiseln freizubekommen?
Ägypten ist der Schlüssel. Kairo ist zwangsläufig der Hauptansprechpartner – aus vielerlei Gründen. Es gibt dort Kanäle in beide Richtungen und es gibt eine Zusammenarbeit zwischen den Nachrichtendiensten, auch im militärischen Bereich. Jedenfalls war das früher so. Ägypten kennt auch die Hamas, man weiß, was man voneinander zu halten hat. Ob das reicht, muss man sehen. Ein Faktor ist sicherlich auch, wie die israelische Regierung mit dieser Katastrophe umgehen will. Ist sie bereit, gravierende Konzessionen zu machen an ihren Erzfeind? Und kann sie sich das politisch erlauben? Eines ist klar: Das Schutzversprechen des israelischen Staates gegenüber seinen Bürgern ist schmählich verletzt worden. Das dürfte politisch gesehen sowieso tödlich sein.
Mit anderen Worten: Sie glauben, dass es die Regierungskoalition zu Fall bringen wird?
Ja. Alles andere würde mich verwundern. Sie können das ja gar nicht wiedergutmachen, unabhängig davon, ob die Regierung wirklich schuld war im vorwerfbaren Sinne; das kann ich nicht beurteilen. Aber auf Englisch heißt es so schön: It happened on their watch. Die Regierung hat es nicht verhindert, sie hat es nicht verhindern können. Die Gründe dafür sind fast zweitrangig. 260 junge Leute, abgeschlachtet auf einem Techno-Festival. Die Wucht der Erkenntnis, dass Israel und seine Regierung und ihr Sicherheitsapparat nicht in der Lage waren, diesen elementaren Zusammenbruch der inneren Sicherheit zu verhindern und damit dem erklärten Erzfeind die freie Hand zu lassen: Das kann man politisch nicht überleben.
Glauben Sie, dass es in der Geiselfrage eine schnelle Lösung geben wird?
Nein. Es sei denn, Netanjahu geht gleich auf die ersten Forderungen der Hamas ein. Aber politisch kann er sich das nicht erlauben. Denn das hieße ja, die israelischen Gefängnisse auf einen Schlag zu leeren und alle Hamas-Leute freizulassen. Das wäre ein halsbrecherischer politischer Akt; dessen Kosten den Nutzen bei weitem überschreiten würden. Das kann sich wahrscheinlich niemand erlauben. Wenn also nicht ein Wunder passiert, wird diese Krise noch lange anhalten, vielleicht sogar Jahre.
Viele Politiker in Europa fordern einen Stopp oder eine Kürzung der finanziellen Hilfen an die Palästinenser. Hätte das einen Effekt?
Es würde sicher die Palästinenser schmerzen. Und es könnte ein Element der Verhandlungsmasse sein, zur Freilassung der Geiseln. Also, salopp gesagt, humanitäre Hilfe gegen humanitäre Erleichterungen. Aber darüber hinaus? Man kann ja die Bevölkerung in Gaza nicht vor die Hunde gehen lassen. Ich sehe das allenfalls als ein zeitlich begrenztes Mittel. Denn die humanitären und politischen Kollateralwirkungen könnten dramatisch sein.
Was kann die Bundesregierung noch tun?
Gott sei Dank bin ich nicht mehr in beratender Funktion! Aber ich würde im Außenverhältnis einmal die Füße stillhalten, die Lage sondieren, mich eng mit der israelischen Regierung, den Amerikanern und auch mit den anderen betroffenen Staaten abstimmen. Natürlich muss man versuchen, den eigenen Staatsangehörigen zu helfen, die dort als Geiseln gehalten werden – aber bitte nicht auf Kosten der anderen Geiseln. Ich würde also erst mal eine Gemeinschaft derer herstellen, die dieselben Interessen verfolgen. Es darf da nicht drei oder vier konkurrierende »Anbieter« geben.
Könnten die arabischen Staaten vermitteln?
Die werden eher versuchen, sich da rauszuhalten, um sich nicht die Finger daran zu verbrennen.
Sind die Abraham-Abkommen nach diesem Überfall Makulatur?
Diese Abkommen sind ja nicht für das Gute in der Welt geschlossen worden, sondern um gemeinsame wirtschaftliche und auch geopolitische Interessen zu verfolgen. Und das wird man sicher aufrechterhalten und weiterentwickeln wollen. Jetzt muss man schauen, wie man durch die Krisenzeit durchkommt. Was aber passieren kann, dass der Gazakonflikt medial wieder sehr hässlich wird. Und die Sympathien für Israel in der arabischen Welt sind gering. Die Herrscher in den arabischen Ländern müssen Rücksicht auf ihre Bevölkerung nehmen.
Auf welche Dinge müssen wir als Beobachter in den nächsten Wochen besonders schauen? Woran kann man erkennen, in welche Richtung sich etwas bewegt?
Da wäre jetzt erst einmal der Kriegsverlauf. Und dann: Was passiert in Ägypten, was in Katar? Es wird möglicherweise so etwas wie eine israelisch-ägyptische Arbeitsgruppe geben. Die Ägypter werden Kontakt aufnehmen mit der Hamas, dann wird man sehen. Ich würde sehr auf die ägyptische Öffentlichkeitsarbeit schauen. Weiterhin müssen wir darauf achten, was die Hisbollah macht.
Rechnen Sie mit einem Eintritt der schiitischen Miliz in den Krieg der Hamas?
Nein. Ich denke, die wollen da wirklich nicht reingezogen werden. Das Ziel der Hisbollah gegenüber Israel dürfte sein, erst mal abzuwarten und Tee zu trinken, von ein paar gezielten Aktionen gegen Israel abgesehen. Die werden aber eher unternommen, um Solidarität mit der Hamas zu zeigen. Etwas anders sähe die Lage aus, wenn die Hamas von Israel in existenzielle Nöte gebracht würde. Dann könnte ich mir ein begrenztes militärisches Eingreifen der Hisbollah vorstellen, um eine zweite Front aufzumachen.
Sowohl Hamas als auch Hisbollah werden vom Iran finanziert. Sollte Europa eine härtere Gangart gegen die Islamische Republik einschlagen?
Dem Regime des Iran geht es inzwischen gut. Es hat ein strategisches Hinterland mit Russland und China als Verbündeten. Und das geostrategische Interesse Chinas und Russlands ist es, dass das System im Iran nicht untergeht. Unter diesem Aspekt steht der Iran besser denn je da. Er hat gleich zwei Großmächte an seiner Seite. Wirtschaftliche Sanktionen des Westens würden zumindest teilweise von China und Russland aufgefangen. Und gegen Russland funktionieren unsere Sanktionen leider auch nicht richtig.
Strebt das Regime im Iran einen Krieg gegen Israel an?
Der Iran unterstützt die Hamas und die Hisbollah militärisch und finanziell. Aber ich glaube nicht, dass es in Teheran ein Interesse an einer direkten Konfrontation mit Israel gibt.
Mit dem Islamwissenschafter und ehemaligen Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes sprach Michael Thaidigsmann. 2022 erschien im Econ Verlag Gerhard Conrads gemeinsam mit Martin Specht verfasste Autobiografie »Keine Lizenz zum Töten«.