Dokumentation

»Was wahre Menschlichkeit ausmacht«

Leo-Baeck-Preisträger Cem Özdemir während seiner Dankesrede Foto: Gregor Zielke

Kein Land dieser Welt kann einfach seine Vergangenheit abschütteln, aber wir ganz sicher am wenigsten. Und das Wertvollste, was aus den Lehren der Vergangenheit folgt, sind unser Grundgesetz und unsere liberale Demokratie. Gerade sie muss stets wehrhaft sein gegenüber ihren Feinden.

Das ist von allen Herausforderungen und Krisen, die wir bestehen müssen, immer die grundlegendste – und da sollte es parteiübergreifend unter Demokratinnen und Demokraten in Deutschland weder bloße Lippenbekenntnisse noch zwei Meinungen geben. Egal, wie krisenhaft die Gegenwart, wie verunsichernd die Herausforderungen, wie bröckelig die Aussicht auf eine gute Zukunft – die liberale Demokratie ist der Grundstein unserer Freiheit und damit unseres Menschseins.

demokratie Nichts ist selbstverständlich, schon gar nicht die liberale Demokratie. Und sie ist es auch dann nicht, wenn sie in einem Land schon Jahrzehnte Bestand hatte und es geradezu unvorstellbar erscheint, dass man sich von ihr abwendet. Da wurden und werden wir schmerzhaft – und wohl etwas naiv – eines Besseren belehrt. (…)

Wir müssen begreifen: Antiliberalismus und Antisemitismus gehen stets Hand in Hand.

Wir müssen begreifen: Antiliberalismus und Antisemitismus gehen stets Hand in Hand. Diese unheilvolle Allianz in der deutschen Geschichte und auch das historische Versagen des Bürgertums wurden inzwischen vielfach dokumentiert. Wo Antisemitismus grassiert, da wird auch unser Grundgesetz angegriffen, und alles wofür ein modernes, weltoffenes Deutschland steht. Und da, wo dieses moderne, weltoffene Deutschland angegriffen wird, da ist der Antisemitismus nicht weit.

Daher ist der wehrhafte Kampf für die liberale Demokratie immer auch ein Kampf gegen Antisemitismus. Und daher ist der Kampf gegen Antisemitismus immer auch ein Kampf für die liberale Demokratie. Das gehört untrennbar zusammen. (…)

krisen Demokratie muss in der Lage sein, Krisen zu lösen. Sie muss sozialer Ungleichheit Schranken setzen, für eine funktionierende Infrastruktur sorgen, die öffentlichen Einrichtungen – wie allen voran unsere Schulen – stärken und sozialen Aufstieg ermöglichen. Sie muss der Bevölkerung nachweisen, dass es fair zugeht. Ich stehe hier auch als Teil der Bundesregierung vor Ihnen und stelle unumwunden fest: Bei all dem Genannten müssen wir Demokratinnen und Demokraten, trotz aller Meinungsunterschiede, besser werden.

Auch das ist ein Teil unserer nicht verhandelbaren Verantwortung. Aber – und das ist entscheidend: Keine tatsächliche oder vermeintliche Ungerechtigkeit dieser Welt kann und darf als Begründung für Rassismus und Antisemitismus herhalten. In diesem Sinne müssen wir stets eine klare und unmissverständliche Grenze zwischen Demokraten und Feinden der Demokratie ziehen, egal welcher Couleur. (…)

Vergangenheit und Zukunft zu verbinden, bedeutet, sich in der Gegenwart zu erinnern. Wer in Deutschland lebt und Teil dieser Gesellschaft ist oder werden möchte, wer das Land verstehen will, muss den Nationalsozialismus und die Schoa begreifen – wie es Bundespräsident von Weizsäcker gesagt hat: nicht im Sinne von Schuld, sondern von Verantwortung. Dabei spielt es keine Rolle, woher die eigenen Vorfahren stammen.

heimat Egal, woher man/frau kommt oder woher die Eltern und Großeltern stammen: In Deutschland ist auch die Vergangenheit unsere gemeinsame Heimat. Das klingt nur auf den ersten Blick rückwärtsgewandt. Denn in Wirklichkeit ist die Kultur des Erinnerns unser größter kultureller und demokratischer Schatz und eine Grundlage für die gemeinsame Zukunft. Keine Vielfalt der Welt kann diese gemeinsame Erinnerung infrage stellen. Vielmehr muss die gemeinsame Erinnerung Voraussetzung und Kern dieser Vielfalt sein. Das ist die Gewähr für eine Deutsche Einheit, die uns in die Zukunft trägt. (…)

Die Kultur des Erinnerns ist unser größter kultureller Schatz.

Ich habe es immer als meine Verantwortung empfunden, darauf hinzuweisen, dass es Antisemitismus nicht nur am rechten Rand oder im linken Spektrum gibt, sondern auch in muslimisch geprägten Milieus. Ja, so manche Linksliberale tun sich schwer damit. Ja, Muslime sind auch Opfer von Rassismus und Ausgrenzung. Aber sie können eben auch Täter sein.

Ich führe hier keine Debatte, inwiefern das Muslimische tatsächlich relevant oder ursächlich ist. Was uns aber keinen Schritt weiterbringt, wenn es nach Angriffen oder Anschlägen heißt, das habe mit dem Islam nichts zu tun und den Islam gäbe es ja gar nicht. Religion prägt Kultur, Werte und Milieus, in denen Menschen aufwachsen. Man könnte sich vielleicht darauf einigen, dass es nicht nur mit dem Islam zu tun hat – aber eben auch mit dem Islam und das nicht in geringem Maße. (…)

gesellschaft Wenn wir sagen, dass Antisemitismus keinen Platz in unserer Gesellschaft haben darf, dann müssen wir dem auch Taten folgen lassen. Es sollte nicht das jüdische Kind die Schule wechseln müssen, sondern diejenigen, die drangsalieren und antisemitisch sind – und das muss sich dann herumsprechen, damit auch andere Eltern es verstehen.

Dabei muss ebenfalls klar sein: Keine realen oder nachträglich konstruierten familiären Entbehrungen von Menschen, die aus dem arabischen Nahen Osten stammen, können Hass rechtfertigen. Sie können und dürfen auch nicht das Fundament unseres außenpolitischen Selbstverständnisses infrage stellen. Das Fundament, das gesamtgesellschaftlich getragen werden muss: Israels Existenz ist der Kern der außenpolitischen Identität der Bundesrepublik.

Nur so wird außenpolitisch unsere nachdenkliche Erinnerungspolitik zu einer handlungsfähigen Verantwortungspolitik. Dabei reicht es nicht, dass Israels Bestehen floskelhaft und formell anerkannt wird – daneben aber manches getan wird, um Israels Gesellschaft zu verteufeln, alle Konflikte der Welt in Israels Verantwortung zu schieben, Israels Sorgen zu entwerten und weniger legitim zu betrachten als die seiner Nachbarn oder anderer Länder der Welt.

lippenbekenntnis Ein Lippenbekenntnis zu Israels Existenz reicht eben nicht, wenn Israel umzingelt oder isoliert wird. Eine boykottierte Existenz ist keine Existenz. Das muss allen klar sein! Kritik ja, so wie wir andere Staaten kritisieren oder auch selbst kritisiert werden – aber niemals Boykott und Isolation.

Leo Baeck hielt sich an sein Wort. Er tat, was er predigte und lehrte. Er tat es auch unter unmenschlichen Bedingungen.

Ich begreife mich selbst als politisch Linken – und gerade deshalb bin ich verpflichtet, den Finger in diese Wunde zu legen. Auch in der Debatte über Antisemitismus bei der documenta konnte man irgendwann den Eindruck gewinnen, die begründete Kritik an den Verantwortlichen sei denen lästiger und problematischer als die Kunstwerke selbst.

Wehrhaft bleibt unsere liberale Demokratie nur dann, wenn man keine Unterschiede macht, aus welcher Ecke Antisemitismus stammt. Wenn wir ihn ernsthaft bekämpfen, dann müssen wir dies anerkennen und es vor allem in unseren Schulen und an unseren Universitäten auch angehen und bearbeiten – an der Wurzel!

Leo Baeck hielt sich an sein Wort. Er tat, was er predigte und lehrte. Er tat es auch unter unmenschlichen Bedingungen. Sein Denken und Tun sind uns eine Mahnung, stets zu bewahren, was wahre Menschlichkeit ausmacht: Hilfsbereitschaft, Nächstenliebe, Toleranz. Aber sie eben nicht nur zu bewahren – sondern auch einzufordern und zu verteidigen.

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