Neufahrn nördlich von München: Hinter alarmgesicherten Türen einer ehemaligen Brotfabrik lagert die katholische Kirche auf acht Regalkilometern historische Dokumente. Archivleiter Michael Volpert bringt zwei Holzkästen mit Sparbüchern aus dem Magazin. Auf ihrer braunroten Aufschlagseite schwebt über dem Münchner Kindl ein Reichsadler mit Hakenkreuz.
Zwei Listen liegen bei mit 417 Namen, wenige sind durchgestrichen und mit der Notiz »ausbezahlt« versehen. Relikte einer dunklen Vergangenheit, die mit einem schillernden Namen verbunden ist: Lebensborn. So hieß ein 1935 in Berlin gegründeter Verein. Initiator war der Reichsführer SS Heinrich Himmler. Als Instrument nationalsozialistischer Bevölkerungspolitik sollte er Abtreibungen verhindern, allerdings nur von »erbbiologisch wertvollen« Kindern.
Bis heute ranken sich Mythen um den Lebensborn. Etwa der, er habe Bordelle für stramme SS-Männer und blonde, blauäugige Mädchen betrieben. Tatsächlich unterhielt der Verein unter dem Leitspruch »Heilig soll uns sein jede Mutter guten Blutes« zeitweise mehr als 20 Entbindungsheime für schwangere Frauen und deren uneheliche Kinder.
Mythen von Bordellen für stramme SS-Männer und blonde, blauäugige Mädchen
Das erste wurde 1936 in Steinhöring östlich von München eröffnet: in einem Haus, in dem ursprünglich Priester und Pfarrhaushälterinnen ihren Lebensabend verbringen sollten, etwas abseits gelegen, aber mit guter Verkehrsanbindung.
In den Heimen kamen etwa 18.000 Babys zur Welt. Gesunde Ledige mit dem richtigen Stammbaum konnten schon Monate vor der Entbindung aufgenommen werden, um die Schwangerschaft zu verheimlichen. Eigens eingerichtete Standesämter registrierten die Geburten, ohne sie an die Wohnorte der Mütter weiterzumelden. In der Regel kamen die Kinder später in Pflegefamilien. Schwerbehinderte Neugeborene wurden ermordet.
Für höhere SS-Kader war die Mitgliedschaft im Verein verpflichtend. Väter von Lebensborn-Kindern mussten Unterhalt zahlen, für jedes existierte ein Sparkonto. Bis weit in den Krieg hinein genossen die Entbindungsheime Privilegien bei der Verpflegung. Es gab fünf Mahlzeiten am Tag, dazu intensive Schulungen in der nationalsozialistischen Weltanschauung.
Hunderte ausländische Kinder verschleppt
Ab 1942 beteiligte sich der Lebensborn an der Verschleppung ausländischer Kinder aus den von der Wehrmacht besetzten Gebieten. Nach einer »rassehygienischen Untersuchung« wurden sie zwangseingedeutscht: Ihre Geburtsdaten, -namen und -orte wurden gefälscht.
Nach dem Krieg beauftragte die US-amerikanische Militärverwaltung die Caritas und die Katholische Jugendfürsorge (KJF) in München mit der Abwicklung des Vereins. Denn es gab keine anderen unbelasteten Organisationen mit der benötigten Expertise mehr, wie der Historiker Rudolf Oswald erläutert.
Im »Heim Hochland«, der letzten noch intakten Einrichtung des Lebensborn in Steinhöring, waren 160 Kinder zurückgelassen worden, die allermeisten keine drei Jahre alt. Bis 1948 wurden sie überwiegend an Pflegeeltern vermittelt. Einige landeten wieder bei ihren Müttern, sofern diese dazu bereit waren und ermittelt werden konnten. Fast alle Lebensborn-Kinder wurden über ihre Herkunft belogen. Einige forschen bis heute nach ihren leiblichen Eltern.
Milde Strafen und Freisprüche
Bei einem Prozess vor einem US-Militärtribunal in Nürnberg konnten führende SS-Leute die Richter 1948 überzeugen, der Lebensborn sei eine karitative Einrichtung gewesen. So kamen sie mit milden Strafen oder Freisprüchen davon.
Himmlers Hausarzt und Duz-Freund Gregor Ebner etwa hatte im Lebensborn Karriere gemacht. Dort war er an der Selektion von für »lebensunwert« befundenen Kindern beteiligt. 1950 wollte ihm die Justiz die ärztliche Approbation entziehen. Doch nach einem Gnadengesuch konnte er seine Praxis in Kirchseeon unbehelligt weiterführen.
Und die KJF? Verwaltet bis heute noch gut 400 Sparbücher, die der Lebensborn für die Kinder in seiner Obhut angelegt hat. Die Resonanz auf mehrere internationale Suchaktionen fiel bescheiden aus. Aber vereinzelt gab es auch nach der Jahrtausendwende Auszahlungen, die bislang letzte 2023. Und solange noch jemand kommen könnte, wird das so bleiben.
Sparbücher der Kinder weiter abholbereit
Ein Gebäude des ehemaligen Heims »Hochland« steht noch. Es gehört seit 1971 zu einer großen KJF-Einrichtung für Menschen mit teils schwersten Behinderungen. Der Träger versteht das als ein Statement, denn seine Schützlinge hätten in der NS-Zeit kein Recht gehabt zu leben. Das Haus wird gerade saniert. Ein Abriss kam aus historischen Gründen nicht infrage. Ehemalige Lebensborn-Kinder und deren Nachfahren wüssten das zu schätzen, sagt Leiterin Gertrud Hanslmeier-Prockl.
Sie erinnert sich an ihre erste Begegnung mit einem ehemaligen Lebensborn-Kind: »Ein 60-jähriger Mann kam mit einem Foto, auf dem das Haus eindeutig zu erkennen war, davor stand eine Frau mit einem Kind auf dem Arm. Das Bild war das einzige, was er von seinen Adoptiveltern als Hinweis erhalten hatte. Ich konnte ihm den Aufnahmeort zeigen. Jetzt wusste er, wo er geboren worden war.«
Dem Besucher sei zugleich klar gewesen, er habe in diesem Heim zur Welt kommen dürfen, weil seine Eltern dem Nationalsozialismus wahrscheinlich sehr zugetan waren, sagt Hanslmeier-Prockl. Da habe es ihn getröstet zu sehen, »dass an diesem Ort jetzt Gutes passiert«.
Im Park hinter dem Haus stillt eine monumentale Mutter aus Muschelkalk ihr Kind. Auf den ersten Blick könnte man sie für Maria und den Knaben für Jesus halten. Wohl ab 1941 stand die Figur am Eingang des Heims »Hochland«, direkt neben einem Eisentor voller germanischer Runen, in der Mittelstrebe das Logo der SS. Frisch verzinkt hängt das Tor jetzt an einem Pferdestall, wo Reittherapien stattfinden.