Die Sicherheit Israels sei deutsche Staatsräson - das ist ein Satz, der in der vergangenen Woche vielfach ausgesprochen wurde. So versicherte Kanzler Olaf Scholz im Bundestag: »In diesem Moment gibt es für Deutschland nur einen Platz: Den Platz an der Seite Israels. Das meinen wir, wenn wir sagen: Die Sicherheit Israels ist deutsche Staatsräson.«
Die Formulierung geht zurück auf Angela Merkel, die 2008 als erste ausländische Regierungschefin eine Rede im israelischen Parlament, der Knesset, halten durfte. Anlass dafür war der 60. Jahrestag der Gründung des Staates Israel. »Jede Bundesregierung und jeder Bundeskanzler vor mir waren der besonderen historischen Verantwortung Deutschlands für die Sicherheit Israels verpflichtet«, sagte sie damals. »Diese historische Verantwortung Deutschlands ist Teil der Staatsräson meines Landes.« Mit »Staatsräson« meinte sie soviel wie: das alles andere überragende Interesse der Bundesrepublik.
Die besondere Verbindung Deutschlands zu Israels erwächst aus dem von Nazi-Deutschland verübten Massenmord an sechs Millionen europäischen Juden. Immer wieder ist sogar zu hören, ohne den Holocaust wäre der Staat Israel überhaupt nie gegründet worden. Das allerdings sei »absoluter Unsinn«, sagt der Münchner Historiker Michael Wolffsohn, Autor von Büchern wie »Wem gehört das Heilige Land?« und »Eine andere Jüdische Weltgeschichte«. »Der Zionismus - das Streben nach einem unabhängigen jüdischen Staat - wurde 1897 gegründet, die institutionellen Rahmenbedingungen des zionistischen Gemeinwesens standen spätestens 1920«, erläutert der 1947 als Sohn deutschjüdischer Flüchtlinge in Tel Aviv geborene Wolffsohn in einem Interview der Deutschen Presse-Agentur. Israel würde es vermutlich auch ohne Hitler geben.
Aber was hat Merkel mit ihrem Satz von der Staatsräson nun eigentlich konkret gemeint? Wenn man ihre Aussagen wörtlich nimmt, bedeuten sie, dass Deutschland für die Sicherheit Israels einsteht. Aber kann es das? Das Bundesverteidigungsministerium hat angekündigt, zwei von Israel geleaste Drohnen zurückzugeben. Eine Bitte Israels um Munition für Kriegsschiffe liegt vor. Doch damit wäre die Sicherheit des Landes kaum zu gewährleisten. Wolffsohn kritisiert: »Heute wird geredet - unter Adenauer wurden Taten vollbracht.«
Der erste Bundeskanzler Konrad Adenauer schloss 1952 mit Israel ein Wiedergutmachungsabkommen, in dem sich die junge Bundesrepublik zu jährlichen Zahlungen verpflichtete. Von 1957 bis 1964 habe zudem eine intensive militärische Zusammenarbeit bestanden, erläutert Wolffsohn. »Das waren Panzer, Munition und so weiter, auf den Weg gebracht vor allem vom damaligen Verteidigungsminister Franz Josef Strauß.«
Mittlerweile jedoch habe sich die Situation geradezu ins Gegenteil verkehrt: »Deutschland braucht jetzt Israels Hilfe, um sich zu schützen.« Um mögliche Raketenangriffe abzuwehren, kauft Deutschland von Israel das Abwehrsystem Arrow 3. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu kommentierte das nicht ohne eine gewisse Genugtuung: »Vor 75 Jahren war das jüdische Volk auf dem Boden Nazi-Deutschlands zu Asche zermahlen worden. 75 Jahre später gibt der jüdische Staat Deutschland, einem anderen Deutschland, die Werkzeuge an die Hand, sich zu verteidigen.« Für Wolffsohn ist der Satz mit der Staatsräson darum nur noch »ein makaberer Witz«.
Man kann dagegen halten, dass Israel zu seiner Verteidigung nicht auf Deutschland angewiesen ist, sondern sich auf seinen ungleich stärkeren Partner USA verlassen kann. Von Deutschland erwartet Israel wohl vor allem »politische Unterstützung«, wie es Verteidigungsminister Boris Pistorius gesagt hat. Die Solidaritätsbekundungen der deutschen Politik für Israel sind zurzeit parteiübergreifend. Ein Entschließungsantrag, in dem sich der Bundestag an die Seite Israels stellt, wurde am Donnerstag mit den Stimmen aller Fraktionen angenommen. Die Frage ist allerdings, wie stark dies auch in der Bevölkerung verankert ist.
Der Schock über die Mordtaten der islamistischen Terrororganisation Hamas scheint nicht so groß zu sein wie nach Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine. Vermutlich spielt dabei eine Rolle, dass sich viele Deutsche durch den Terror in Israel nicht selbst existenziell bedroht fühlen, wohingegen Putins Drohungen mit der Atombombe vor allem zu Beginn des Krieges vielen Menschen Angst machten. Daneben ist es aber eben auch so, dass Israel lang nicht überall Sympathien genießt. Schon Angela Merkel wies in ihrer Knesset-Rede darauf hin, dass in Umfragen eine deutliche Mehrheit der Befragten in Europa angebe, die größere Bedrohung für die Welt gehe von Israel aus und nicht etwa vom Iran.
Sprachlos machen die propalästinensischen Kundgebungen, bei denen die Verbrechen der Hamas regelrecht gefeiert werden. Zwar haben sich daran bisher jeweils nur einige hundert Menschen beteiligt, doch Wolffsohn gibt zu bedenken: »Der Erfolg der Demos besteht darin, dass jetzt alle darüber diskutieren, ob das falsch oder richtig ist.« Damit hätten die Aktivisten erfolgreich ein Thema gesetzt.
Auffällig ist, dass es gerade auch junge Menschen mit arabischem Hintergrund sind, die bei diesen Kundgebungen Transparente schwenken und Parolen rufen. Ist ihnen die Vergangenheit des Landes, in dem sie leben, überhaupt bewusst? Wolffsohn meint: »Die deutsche Erinnerungspolitik richtet sich nur an die Nachfahren der Altdeutschen, um es einmal so zu sagen. Tatsache ist aber, dass es gerade in der islamischen Welt in den späten 30er Jahren und erst recht im Zweiten Weltkrieg eine ganz aktive Kollaboration von Palästinensern und anderen Arabern und islamischen Gruppen mit Hitlers Wehrmacht und der SS gegeben hat. Woher sollen die arabischstämmigen Neubürger das wissen, wenn es ihnen niemand sagt? Ihre eigene Herkunftsgruppe weiß es nicht und will es nicht wissen.«
Wolffsohn befürchtet außerdem, dass die derzeit noch vorhandene Unterstützung für Israel in dem Moment bröckeln wird, in dem die israelische Armee im Gazastreifen einrückt und es dann verstärkt zu Opfern unter der palästinensischen Zivilbevölkerung kommt. »Dann werden hier sehr viele - Altdeutsche wie Neudeutsche - sagen, das sei ja genau wie bei den Nazis, das erinnere sie an den Holocaust.«
Immerhin, einen Lichtblick gibt es, und er wurde durchaus international beachtet: Noch am Tag des Hamas-Terrors wurde abends die israelische Flagge auf das Brandenburger Tor projiziert. Vor 90 Jahren wehten dort die roten Hakenkreuzflaggen, jetzt leuchtete der Davidstern auf dem weltbekannten Bauwerk. Ein hilfloses Zeichen, ja. Aber ein Zeichen.