Der Fall Gil Ofarim scheint vielen als längst entschieden – schließlich gibt es sowohl von Ofarims Behauptungen als auch vom Gegenbeweis ein Video: Am 4. Oktober 2021 filmte der Musiker sich selbst auf den Stufen vor dem Westin Hotel in Leipzig – und berichtete, ein Hotelmitarbeiter habe ihn gerade am Empfang aufgefordert, »seinen Stern wegzupacken«, sonst dürfe er nicht einchecken. Aber auch die Überwachungskameras des Hotels filmten ihn, und auf den Aufnahmen aus der Lobby ist Ofarims Kette mit Davidstern nicht zu sehen.
Sowohl eine breite Öffentlichkeit als auch die Staatsanwaltschaft geht inzwischen davon aus, dass Ofarims Aussagen über den angeblichen antisemitischen Vorfall im Hotel erfunden sind. Seit Dienstag muss der Sänger sich vor dem Landgericht Leipzig unter anderem wegen Verleumdung und Falschaussage verteidigen. Wer aber zwei Tage lang mit Gil Ofarim im Gericht saß, beginnt daran zu zweifeln, dass alles so einfach ist.
Bisher hat Gil Ofarim vor dem Richter kein Wort gesprochen. Dafür sprachen vier Zeugen: Der Hotelmanager Herr W., dem Ofarim bis heute unterstellt, ihn aufgefordert zu haben, den Stern wegzupacken. Die Rezeptionistin Frau G., die während des ersten Gesprächs der beiden Männer am Check-in neben ihnen stand. Und die zwei Reisenden Herr S. und Frau K., die hinter Ofarim in der Schlange standen, und zumindest teilweise die Szene am Check-in und ein zweites kurzes Gespräch zwischen Ofarim und dem Hotelmanager W. in der Lobby gehört haben wollen.
Was hat der Hotelmanager wirklich zu Ofarim gesagt?
Dass nach zwei Jahren die Erinnerungen der Zeugen nicht mehr deckungsgleich sind, ist genauso erwartbar wie unauffällig: Mal sind es zwei, mal drei Gäste, die in der Schlange am Check-in vorgezogen wurden, während Ofarim und andere Hotelgäste warten mussten. Mal hat Ofarim im Anschluss am Empfangstresen wild gestikuliert und in die Hände geklatscht, mal nur etwas genervt seinen Unmut über die scheinbar unfaire Behandlung und das lange Warten kundgetan. Alle Zeugen bestätigen in leicht abgewandelten Versionen, er habe dann dem Hotelmanager W. angekündigt, ein Beschwerde-Video aufzunehmen, sobald er auf dem Zimmer sei. Dies werde viral gehen. Daraufhin habe Herr W. ihm das Anmeldeformular, das bereits auf dem Tresen lag, wieder entzogen – genau dies ist auch auf den Überwachungsvideos zu sehen. Nur eben ohne Ton. Herr W. sagte am Dienstag aus, er habe zu Herrn Ofarim gesagt: »dann werden Sie auch heute nicht unser Gast sein.«
Warum wurde Ofarim das Zimmer verwehrt?
Gil Ofarims Verteidiger finden schon allein diesen Vorgang unschlüssig. Wie kann es sein, dass ein erfahrener Manager eines erstklassigen Hotels einem Gast, dessen Zimmer bereits bezahlt war, und der im Hotelsystem als »VIP« vermerkt war, nach weniger als einer Minute Beschwerden die Übernachtung verwehrt? Sicher, Herr Ofarim schien von der ersten Sekunde an kein angenehmer Gast zu werden – aber ihn gegen acht Uhr abends wieder vor die Tür zu setzen, und – wie Herr W. selbst angab – »von seinem Hausrecht Gebrauch zu machen«, ist im Westin kein alltägliches Prozedere. Das bestätigte auch die Rezeptionistin.
Die Verteidigung wird in den nächsten Prozesstagen wohl genau darauf drängen, dass Herr W. wusste, wen er da vor sich hatte – und Gil Ofarim auch deshalb, also aus antisemitischen Gründen, den Check-in verwehrte. Egal, ob er in diesem Moment seine bekannte Davidsternkette trug oder nicht. Herr W. allerdings behauptet, er habe erst am nächsten Morgen Herrn Ofarim gegoogelt, und vorher nicht gewusst, wer er überhaupt sei.
Es gibt noch ein zweites Gespräch, das wohl niemand mitgehört hat
Alle drei Zeugen, die angeben, das kurze Gespräch zwischen Ofarim und W. am Empfangstresen mehr oder weniger vollständig mitbekommen zu haben, bestätigen, sie hätten keinen Spruch gehört, der sich in irgendeiner Art und Weise auf eine Davidsternkette beziehe. Auch gibt niemand an, sie in diesem Moment überhaupt gesehen zu haben. Aber es gibt noch ein zweites Gespräch, welches keiner der bisherigen Zeugen gehört hat: Nach der kurzen Auseinandersetzung am Tresen tritt Ofarim zur Seite, der Hotelmanager W. geht um den Empfangstresen herum zu ihm in die Lobby – und die zwei sprechen kurz miteinander. Während dieses Gesprächs will der Zeuge S., der Reisende, der gerade noch am Check-in-Schalter steht, die Davidsternkette gesehen haben. Er schilderte sie am Dienstag vor Gericht: ein großer silberner Stern, ungewöhnlich tief hängend. Die Kette sei ihm aufgefallen.
Könnte es sein, dass Herr Ofarim die Kette nach dem Gespräch am Tresen aus seinem T-Shirt hervorholte, bevor er nochmal mit dem Hotelmanager sprach? Oder hat er, wie der Zeuge S. vermutet, seine Jacke geöffnet, so dass sie nun hervorblitzte? Hat Herr W. dann womöglich etwas zu der Kette gesagt? Das zweite Gespräch konnte keiner der bisherigen Zeugen hören, es war zu weit weg, die Lobby voll, die Hintergrundmusik dudelte. Als Gil Ofarim das Hotel verlässt, sieht man auf den Bildern der Überwachungskamera wieder keine Kette. Es bleibt abzuwarten, ob die Videoforensiker in den kommenden Prozesstagen bestätigen, auch während des zweiten Gesprächs in der Lobby eine Sichtbarkeit der Kette ausschließen zu können.
Könnte der Reisende Herr S. sich unter dem Eindruck der ausufernden Berichterstattung nur einbilden, den Davidstern in der Lobby überhaupt gesehen zu haben? Und könnte dennoch bei diesem zweiten Gespräch, ganz abgesehen von der Kette, ein antisemitischer Spruch gefallen sein? Einer, der Ofarim dazu veranlasste, sobald er das Hotel verließ, sich auf den Bordstein zu hocken und sein Video aufzunehmen?
»So etwas würde in dem Team niemals vorkommen«
Noch ist vieles offen im Prozess um Gil Ofarim. Aber dass sich der Fall tatsächlich nochmal um 180 Grad dreht, und dem Hotelmanager W. Antisemitismus nachgewiesen werden könnte, ist höchst unwahrscheinlich. Gleichzeitig wird es für die Staatsanwaltschaft auch schwierig, zu belegen, dass zu keiner Zeit in der Lobby ein antisemitischer Spruch fiel – nicht in jeder Szene sind die Ohren der Zeugen nah genug dran.
Es ist wichtig zu betonen, dass Herr W. in den letzten zwei Jahren schwere Einschränkungen wegen der Anschuldigungen durch Gil Ofarim erlitten hat. Vor Gericht erzählte er am Dienstag von Morddrohungen, Wohn- und Arbeitsortswechseln, Ängsten und Schlafstörungen. Sollte, wie es weiterhin wahrscheinlich ist, Ofarim den antisemitischen Spruch nur erfunden haben, ist es auch für die Öffentlichkeit, die diesen Prozess so aufmerksam verfolgt, und auch für Jüdinnen und Juden, die alltäglich tatsächlich Antisemitismus erfahren, wichtig, dass ein angemessenes Urteil gegen Ofarim gefällt wird.
Gleichzeitig ist zu hoffen, dass das Gericht nicht davon ausgeht, was auch in diesen zwei Prozesstagen wieder von Zeuginnen wiederholt wurde: Dass es nämlich überhaupt nicht sein könne, dass Antisemitismus in so einem Hotel passiere. So sagte die Rezeptionistin G. am Dienstag vor Gericht, so etwas würde niemals in ihrem Team vorkommen. Und auch die Reisende K. schloss aus, dass ein antisemitischer Spruch bei dem Gespräch gefallen sei – während sie später zugab, nicht jedes Wort mitgehört zu haben. Auch wenn es mit großer Wahrscheinlichkeit hier nicht geschah – Antisemitismus ist in Deutschland in jeder Schicht und an jedem gesellschaftlichen Ort möglich.