Wir können uns in unserer Zeit auf immer weniger Gewissheiten einigen. Einer Sache sind wir uns jedoch noch sicher: Es gibt eine Zeit vor und eine Zeit nach Auschwitz. Unser gesamtes Denken, unser Blick auf Gesellschaft und Staat, auf Religion und auf unser Zusammenleben an sich hat sich verändert. Es musste sich verändern.
Heute, 80 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz, das in seiner Grausamkeit der Vernichtung für den Zivilisationsbruch der Schoa steht, befinden wir uns erneut an einer Wegmarke. Was bedeutet Auschwitz heute noch für Deutschland? Was bedeutet es in einer Zeit, in der wir immer weniger Zeitzeugen der Schoa erleben? Was bedeutet es in einer Zeit, in der immer mehr Menschen in Deutschland keinen familiären Bezug zur NS-Zeit haben?
Für mich persönlich, als Mitglied der zweiten Generation von Schoa-Überlebenden und Opfern, sind das auch schmerzliche Fragen. Wir sind aufgewachsen in dem Glauben an eine Gesellschaft nach Auschwitz, die sich dem Schrecken und der unmenschlichen Grausamkeit dieses Ortes und wofür er steht immer bewusst sein wird; und daraus Konsequenzen zieht. Auch das lief nie geradlinig. Hier in Frankfurt denke ich besonders an Fritz Bauer und die Auschwitzprozesse und welchen Anfeindungen dieser mutige Mann doch auch zwanzig Jahre nach der Schoa noch entgegengetreten ist.
Unser Blick auf Auschwitz darf sich in seinem Kern nicht verändern. Er kann es nicht, wenn dieses Land seiner Gründungsidee und seiner Verantwortung vor der Geschichte gerecht werden will. Diese Gewissheit, meine Damen und Herren, ist essenziell für jüdisches Leben in Deutschland. Es braucht eine wehrhafte Haltung gegen die Propaganda des »Schuldkults«, deren parlamentarischer Arm mit der AfD bereits in Landtagen und im Bundestag sitzt. Gleichzeitig werden deutsche Straßen mit der postkolonialen Verirrung der »German guilt« geflutet.
»Die Politik muss eine klare Sprache gegen eine subtile Verwässerung der Erinnerung an die Schoa von extrem links und extrem rechts finden.«
Wir sind uns im Wesentlichen der Unterstützung der großen Mehrheit der politischen Akteure sicher, müssen aber auch immer wieder Irritationen erleben – sei es im Stil, aber auch in der Substanz. Gerade die Erinnerung an die Schoa, ihre Singularität sowie die Gestaltung und Absicherung der KZ-Gedenkstätten müssen über jeden Zweifel erhaben sein.
Die Politik muss eine klare Sprache gegen eine subtile Verwässerung der Erinnerung an die Schoa von extrem links und extrem rechts finden.
Wir erleben, dass jüdische Perspektiven in Debatten wie diesen zu wenig, manchmal erst zu spät, wahrgenommen werden. Es braucht dafür Räume. Diese müssen ermöglicht werden – die Politik kann dafür einen Beitrag leisten. Hier in Frankfurt ist es mit der Jüdischen Akademie des Zentralrats gelungen.
Hoffentlich noch in diesem Jahr – und wenn nicht, dann Anfang 2026 – wird die Akademie zu einem wichtigen Impulsgeber werden, der diesen Debattenraum füllen kann. Jüdisches Leben, jüdisches Denken und jüdischer Geist gehören zu Deutschland. Jüdinnen und Juden gehören zu Deutschland.
Genau vor 75 Jahren wurde ebenfalls in Frankfurt der Zentralrat der Juden in Deutschland gegründet. Er ist zu einem Teil der Demokratiegeschichte dieses Landes geworden. Für die Bundesrepublik war und ist das auch ein Anspruch, der sie immer wieder leiten muss.
Den Vortrag hielt Josef Schuster während der Gedenkfeier zum 80. Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz in der Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main. Lesen Sie in der nächsten Printausgabe der Jüdische Allgemeinen mehr über die Veranstaltung.