Die Frage höre ich seit 15 Jahren, seit ich im öffentlichen Schuldienst als Lehrerin tätig bin - als eine jüdische Lehrerin, die sich offen zu ihrer Religion bekennt: »Warum tust du dir das an?«
Also, warum tue ich mir das an? Weil ich Denkweisen bewege, mit Vorurteilen aufräumen und für ein friedliches Miteinander werben kann. Und weil ich für meine Offenheit mit Neugier und einem ergiebigen Austausch mit der Schülerschaft belohnt werde.
Es ist ein schneller bürokratischer Akt, der sich wie eine Ohrfeige anfühlt - gerade in diesem Land.
Ich erzähle den Jugendlichen von meinem Leben in der ehemaligen Sowjetunion und von dem meiner Eltern und Großeltern, von Repressalien und Antisemitismus. Von meiner Mutter, die wegen der so genannten Judenquote ihr Wunschfach Jura an der Abendfakultät studieren musste.
Von meinem jüdischen Mitschüler, der mit blauen Flecken von der Schule nach Hause kam und mit »Scheißjude!«-Rufen im Klassenzimmer empfangen wurde. Ich berichte vom Schulaufnahmegespräch in Moskau, als meine Eltern von der Schulleiterin kopfschüttelnd auf unsere Religion hingewiesen und dann herausgebeten wurden.
Jüdischer Alltag Und ich erzähle über das Jetzt, über die Dankbarkeit, in einer Demokratie und Religionsfreiheit zu leben. Über den jüdischen Alltag in Berlin und Deutschland, über das Land Israel, was so viel mehr ist als nur der Nahostkonflikt. Über das jüdisch-traditionelle Begräbnis meiner Mutter, das Anzünden des Chanukkaleuchters, das Neujahrsfest im Herbst.
Und da ist sie wieder, diese Frage: »Warum tust du dir das an?«
Ich bringe Äpfel und Honig mit und kündige in meiner Klasse an, dass wir uns an Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, nicht sehen. An diesem Tag besuche ich die Synagoge, wie viele andere Jüdinnen und Juden weltweit auch. Wir gehen in uns, fasten, verrichten keinerlei Arbeit, lassen das vergangene Jahr Revue passieren und bitten Gott sowie unsere Nächsten um Verzeihung.
Da ich als Lehrerin keinen Urlaub außerhalb der Ferienzeit nehmen kann und Jom Kippur dieses Jahr auf einen Montag fällt, muss ich einen Antrag stellen - auf Freistellung. Am 20. September entscheidet die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie: »… leider muss ich Ihren Antrag auf bezahlte Freistellung am 25.09.2023 gem. Sonderurlaubsverordnung - SurIV ablehnen.«
Einsame Kämpfe Und da ist sie wieder, diese Frage: »Warum tust du dir das an?« Und ja, warum stelle ich mich Verschwörungstheorien, antisemitischen Beschimpfungen und der Leugnung des Staates Israel? Warum führe ich diese Kämpfe, die ihre Spuren auch nach dem Feierabend hinterlassen, organisiere in meiner Freizeit einen Schüleraustausch mit Israel und bezahle das Kennenlernen mit unserer Partnerschule in Jerusalem aus eigener Tasche? Lauter einsame Kämpfe, gefühlt wie ein kleiner Fisch in den Weiten des Ozeans.
So sieht sie nicht aus, die stets angepriesene Dankbarkeit über jüdisches Leben in Deutschland nach 1945.
Und nun kommt ein weiterer Kampf hinzu, um einen freien Tag, der mir nach dem Staatsvertrag zwischen der Jüdischen Gemeinde zu Berlin und dem Senat von Berlin zusteht. Gegen eine Ablehnung, die an eine weitere Personalnummer mit einem weiteren Bescheid versandt wird. Keine Erklärung, keine Benennung einer möglichen Alternative, mir einen unbezahlten freien Tag zu ermöglichen, kein Dahinterschauen.
Fünf Tage vor Jom Kippur, nicht genug Zeit, um einen weiteren Antrag auf unbezahlte Freistellung einzureichen. Ein schneller bürokratischer Akt, der sich wie eine Ohrfeige anfühlt. Gerade in diesem Land, in das meine Eltern mich gebracht haben, damit ich die Freiheit und das Judentum leben kann.
So sieht sie nicht aus, die stets angepriesene Dankbarkeit über jüdisches Leben in Deutschland nach 1945. Und auch nicht die im Staatsvertrag verankerte »Gewährleistung jüdischer Glaubensfreiheit«.
Schade Berlin, es wäre aber auch zu schön gewesen.