Interview

Warum haben die israelischen Geheimdienste versagt, Herr Masala?

Carlo Masala Foto: picture alliance / Geisler-Fotopress

Herr Masala, wie schockiert waren Sie am Samstag, als die schrecklichen Meldungen aus Israel kamen?
Was ich da, wenn auch nur aus der Ferne und in Ansätzen, an Chaos gesehen habe, hat mir das Blut in den Adern gefrieren lassen.

Israel wurde von dem Angriff der Hamas überrascht. Wie konnte es dazu kommen?
Das ist die spannende Frage. Von den 26 Armeebataillonen, die normalerweise zur Sicherung der Grenze zu Gaza eingesetzt sind, waren am Samstag kaum welche vor Ort. Die waren fast alle im Westjordanland. So konnten die Hamas-Terroristen den Grenzzaun mit Bulldozern durchbrechen und sich stundenlang relativ frei auf israelischem Gebiet bewegen, bevor die ersten Armeeeinheiten eintrafen. Mit anderen Worten: Das Terrain war schlecht gesichert. Und bei dem Musikfestival in der Nähe der Grenze zu Gaza, auf dem mehr als 260 Menschen ermordet wurden, gab es zwar Sicherheitsleute. Aber die waren dafür da, mit Randalierern und Betrunkenen umzugehen, und nicht mit schwer bewaffneten Terroristen.

Haben die israelischen Geheimdienste versagt?
Genau werden wir das erst nach Beendigung der Militäroperation erfahren. Aber es ist für den Außenstehenden schon sehr verwunderlich, dass der Inlandsgeheimdienst Schin Bet von den ganzen Vorbereitungen, die ja mehrere Monate gedauert haben müssen, nichts mitbekommen hat oder es zwar mitbekommen, aber falsch eingeschätzt hat. Vielleicht lagen auch alle Informationen vor, aber niemand war in der Lage, die Fäden zusammenzuknüpfen und die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen. Wie es auch gewesen sein mag, man muss sicherlich von einem Versagen der Geheimdienste sprechen.

Für wie belastbar halten Sie Hinweise, dass der Iran und die Islamischen Revolutionsgarden (IRGC) die Angriffe koordiniert haben, wie das »Wall Street Journal« berichtete?
Ich wäre vorsichtig mit vorschnellen Schlussfolgerungen. Ein Sprecher der israelischen Streitkräfte sagte am Montag, es gebe bislang keinerlei Hinweise auf eine iranische Beteiligung. Andererseits ist auch klar: Diese Operation war sehr komplex. Sie übersteigt in ihrer Dimension alles, was wir bislang von der Hamas gewohnt waren. So etwas vorzubereiten – zu Land, zu Wasser und in der Luft –, das dauert Monate, das war keine spontane Aktion. Es ist recht unwahrscheinlich, dass die Hamas sich das allein ausgedacht hat. Ob aber der Iran Kriegsmaterial an die Hamas geliefert hat, weiß ich nicht. Dass er beratend tätig war, glaube ich hingegen schon.

Einige spekulieren, dass auch Russland ein Interesse hatte, diesen Konflikt anzufachen, um vom Ukraine-Krieg abzulenken. Was halten Sie von dieser These?
Wir haben keinerlei Hinweise darauf, dass Russland involviert ist. Kommt das, was passiert ist, Russland gelegen? Natürlich tut es das. Die internationale Aufmerksamkeit verschiebt sich weg von der Ukraine hin zu einem anderen Konflikt. Aber hat Russland ein Interesse, dass der Nahostkonflikt eskaliert? Ich denke nicht, denn in einem solchen Fall müsste sich auch Moskau mehr engagieren, und dafür hat es momentan nicht die Kraft. Wir sollten Wladimir Putin nicht verklären. Er ist nicht der große Strippenzieher, der Masterstratege, für den ihn viele im Westen halten.

Sehen Sie Russland trotzdem – oder gerade deswegen – als möglichen Vermittler zwischen Israel und der Hamas, auch, was die Freilassung der Geiseln angeht?
Das halte ich für ausgeschlossen. Ich sehe eher Länder wie Katar oder Ägypten am Zug.

Welche Hilfe kann Deutschland Israel anbieten? Schließlich ist die Sicherheit des jüdischen Staates ja angeblich »deutsche Staatsräson«.
Na, man könnte in Jerusalem ja mal nachfragen, was denn konkret gebraucht wird! Die Israelis werden wahrscheinlich keine militärische Unterstützung aus Deutschland benötigen für ihre bevorstehende Bodenoffensive in Gaza. Aber es ist durchaus vorstellbar, dass sie an anderen Dingen, die die Bundesrepublik bereitstellen könnte, Interesse haben, beispielsweise Überwachungsflüge, Schutzausrüstung gegen ABC-Waffen oder Hilfe vom Sanitätsdienst. Und vielleicht auch maritime Unterstützung, um die Abriegelung Gazas von der Seeseite her zu verstärken.

Aber ist »Staatsräson« nicht nur eine leere Worthülse?
Auch Worte sind wichtig. Aber der marxistische Politologe Ernesto Laclau hat einmal den Begriff des »leeren Signifikanten« verwendet. Ich finde, das passt ganz gut auf das Diktum der Sicherheit Israels als deutscher Staatsräson. Für mich ist dieser Begriff so lange bedeutungslos, wie er nicht konkret definiert und ausgefüllt wird. Wenn die Existenz Israels bedroht ist, sind wir dann bereit, deutsche Soldaten zur Verteidigung des Landes dorthin zu schicken? Aber ein klarer Standpunkt Deutschlands allein hilft nicht, damit Israel sich besser gegen die Bedrohungen schützen kann.

Sind wir bereit, das Nötige zu tun?
Dafür muss man erst einmal wissen, was gewünscht ist von israelischer Seite. Wichtig wäre, dass die Bundesregierung proaktiv vorgeht und sich nicht erst zig Mal bitten lässt, wie das bei der Ukraine der Fall war. Berlin sollte in Jerusalem anrufen und fragen, welche Unterstützung benötigt wird, und dann sollte es zügig entscheiden. Bislang ist das meines Wissens noch nicht passiert.

Wenn Sie Bundeskanzler wären und entscheiden könnten, was würden Sie tun?
Ich würde zunächst einmal den Begriff Staatsräson nicht benutzen. Stattdessen würde ich sagen, die Sicherheit und das Existenzrecht Israels sind für uns nicht verhandelbar. Und wenn man das ernst meint, bedeutet das auch, dass wir bereit sein müssen, dass deutsche Soldaten Israel schützen. Nur: So weit denken wir nie. Wir haben ja keine Ahnung, was wir im Ernstfall tun würden! Ich finde es nicht gut, dass niemand definieren will, was Staatsräson eigentlich bedeutet. Und das hilft Israel nicht.

Welche Rolle sehen Sie für Deutschland und für die Europäische Union?
Israel war mit Blick auf Europa immer skeptisch. Es hat zwar eine unterstützende, finanzielle Rolle der EU immer begrüßt, aber es war und ist skeptisch, was die politische und noch mehr die militärische Rolle angeht. Daran wird sich auch nichts ändern. Die Hauptaufgabe der EU-Staaten besteht momentan eher darin, diese ganzen antisemitischen Ausfälle, die wir ja nicht nur in Deutschland erleben, in den Griff zu bekommen. Das muss gerade für die Bundesrepublik Deutschland ganz oben auf der Agenda stehen. Und da ist es nicht damit getan, zusätzliche Polizeistreifen vor Synagogen oder jüdischen Museen oder Schulen abzustellen. Man muss auch dafür sorgen, dass Juden hierzulande ein ganz normales Leben führen und sich sicher auf der Straße bewegen können, ohne von Antisemiten angefeindet zu werden.

In Berlin und anderswo haben palästinensische Gruppen ihrer Freude über den Terror gegen Israel offen Ausdruck verliehen und Süßigkeiten an Passanten verteilt. Handelt Deutschland zu lasch gegenüber den Terrorsympathisanten?
Ich bin kein Jurist, deswegen weiß ich nicht, welche rechtlichen Möglichkeiten es gibt. Aber das, was es gibt, muss man konsequent nutzen. Wann, wenn nicht jetzt? Man kann eine unangemeldete Demonstration auflösen. Man kann Maßnahmen treffen gegen Vereine, die wie »Samidoun« Vorfeldorganisationen der terroristischen Organisation PFLP sind, und sie verbieten. Dadurch werden die Probleme nicht aus der Welt geschafft. Diese Leute sind ja nach wie vor hier. Aber wenn Vereine keine Demonstrationen mehr durchführen können, bei denen israelfeindliche Parolen gebrüllt werden, wäre das ein Fortschritt.

Wie wird es jetzt weitergehen? Kippt demnächst die Stimmung in Deutschland wieder gegen Israel, beispielsweise dann, wenn es zu einer längeren Bodenoffensive in Gaza kommt? Oder ist dieses Mal alles anders?
Ich befürchte leider, es wird bald wieder so sein wie früher – selbst dann, wenn es wundersamerweise irgendjemandem gelingen sollte, die Hamas davon zu überzeugen, die mehr als 100 Geiseln freizulassen. Wir werden wohl eine Bodenoffensive erleben, in der Israel den legitimen und konsequenten Versuch unternimmt, die Hamas als militärischen und politischen Akteur zu zerstören. Übrigens: Je länger Israel zögert, eine solche Bodenoffensive durchzuführen, desto größer würde der internationale Druck, sie abzublasen. Und die Hamas wird die Menschen in Gaza als menschliche Schutzschilde missbrauchen. Da haben die keine Skrupel. Und sobald das passiert, könnte die öffentliche Stimmung wieder kippen – auch in Deutschland.

Es kursieren aktuell zahlreiche Propaganda-Videos der Hamas und anderer Akteure in den sozialen Netzwerken. Wie soll man damit umgehen?
Die gehören meiner Ansicht nach gelöscht. Nur ist das angesichts der zahlreichen Plattformen, die es gibt, schwer umsetzen.

Mit dem Professor für internationale Politik an der Universität der Bundeswehr in München sprach Michael Thaidigsmann.

Gazelle Sharmahd

»Deutschland muss aufhören, immer alles falsch zu machen«

Die Tochter des im Iran getöteten Deutschen Jamshid Sharmahd wirft der Bundesregierung eine gescheiterte Iran-Politik vor. Ein Interview

von Michael Thaidigsmann  22.12.2024

Meinung

Eine Replik von Eva Menasse auf Lorenz S. Beckhardts Text »Der PEN Berlin und die Feinde Israels«

von Eva Menasse  21.12.2024

Debatte

Nach Eklat in Darmstadt: Felix Klein vermisst hassfreien Raum für palästinensisches Leid

Antisemitismusbeauftragter: Verständnis für palästinensisches Leid wird vereinnahmt

 20.12.2024

Meinung

Der AfD-Claqueur

Elon Musk hat sich als Unterstützer der AfD geoutet. Das sollte seinen Anhängern in Deutschland eine Warnung sein

von Michael Thaidigsmann  20.12.2024

Meinung

Der PEN Berlin und die Feinde Israels

In der Schriftstellervereinigung konnte eine Resolution BDS-naher Autoren gerade noch abgewendet werden. Alles gut also? Nicht wirklich

von Lorenz S. Beckhardt  20.12.2024

Hessen

Darmstadt: Jüdische Gemeinde stellt Strafanzeige gegen evangelische Gemeinde

Empörung wegen antisemitischer Symbole auf Weihnachtsmarkt

 19.12.2024 Aktualisiert

Debatte

Darmstadt: Jetzt meldet sich der Pfarrer der Michaelsgemeinde zu Wort - und spricht Klartext

Evangelische Gemeinde erwägt Anzeige wegen antisemitischer Symbole auf Weihnachtsmarkt

 19.12.2024

Hessen

Nach Judenhass-Eklat auf »Anti-Kolonialen Friedens-Weihnachtsmarkt«: Landeskirche untersagt Pfarrer Amtsausübung

Nach dem Eklat um israelfeindliche Symbole auf einem Weihnachtsmarkt einer evangelischen Kirchengemeinde in Darmstadt greift die Landeskirche nun auch zu dienstrechtlichen Maßnahmen

 19.12.2024

Roman Schwarzman

Holocaust-Überlebender aus Ukraine hält am 27. Januar Rede beim zentralen Gedenken im Bundestag

Im kommenden Jahr jährt sich die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz zum 80. Mal. Zur Gedenkstunde im Bundestag wird ein Holocaust-Überlebender aus Odessa erwartet

 19.12.2024