Dies ist die Geschichte eines alten Mannes, der kurz vor seinem 90. Geburtstag immer noch täglich arbeiten muss. Eine Rentenzahlung aus Deutschland wird ihm verweigert, einen Prozess hat der Jude, der im Nationalsozialismus aus Deutschland flüchten musste, verloren. Kürzlich hatte die Bild-Zeitung darüber berichtet. Jetzt kümmert sich die Politik um sein Schicksal. Nach langem Ringen erhält Moses eine Einmalzahlung von 2.556 Euro, wie das Bundesfinanzministerium dem Linke-Abgeordneten Jan Korte mitteilte.
1939 bekamen Moses, seine Eltern und seine Schwester ein Visum für Chile. Noch während der Überfahrt begann der Zweite Weltkrieg. »Wir wurden von den Franzosen gestoppt und als Deutsche noch zwei Monate in ein Internierungslager gesteckt.« Erst 1940 erreichte die Familie das südamerikanische Land. »Wir hatten damals nichts«, erzählt Moses. Nach verschiedenen Gelegenheitsjobs wurde der gebürtige Brandenburger Buchhalter und Steuerberater. In diesem Beruf arbeitet Moses noch heute. »Von meiner chilenischen Rente, die umgerechnet 150 Euro beträgt, können wir nicht leben«, sagt der 89-Jährige.
Als sie 1934 wegen der Nazis ihre Schuh- und Konfektionsgeschäfte im brandenburgischen Sommerfeld aufgeben musste, zog die ganze Familie nach Berlin. In der Nähe der Charlottenburger Wohnung fand der junge Karl-Heinz eine Anstellung in einem Lederwarengeschäft – Abitur und Studium blieben ihm als Jude verwehrt. In der Pogromnacht wurde seine Arbeitsstelle angezündet.
Die Familie begriff, dass es für sie in Deutschland nicht mehr sicher war. In einem Urlaubsort direkt am Pazifik fand Moses schließlich eine neue Heimat. »Die beiden Städte Viña del Mar und Valparaíso, wo ich früher gewohnt habe, liegen am nördlichen Rand des chilenischen Zentrums und grenzen direkt aneinander«, erklärt er. »Hier beginnt jetzt langsam der Winter, aber so kalt wie in Berlin wird es zum Glück nicht. Es ist ein sehr angenehmes Klima, das wir hier haben.«
schwager Nach 72 Jahren in Chile spricht Moses sehr gut Spanisch. »Hier fühle ich mich heimisch.« Nur ein einziges Mal, vor 40 Jahren, besuchte er nach der Schoa Deutschland. »Das war schon komisch, aber gar nicht einmal unangenehm. Damals lebte noch mein früheres Kindermädchen. Vor allem wollten wir aber die nichtjüdische Familie meines Schwagers kennenlernen. Als mein Schwager merkte, dass ich mich bei dem Besuch etwas komisch fühlte, sagte er mir: ›Ich kann dir eins versichern: Ich bin kein Nazi. Für meinen Vater lege ich die Hand aber nicht ins Feuer.‹ Das hat mir sehr imponiert.«
Vier Jahre war Moses Präsident der Comunidad Israelita de Valparaíso Viña del Mar. »Noch heute bin ich im Kultusbeirat tätig. Ich bin sozusagen der Geschichtsschreiber der Gemeinde. Jeden Sonnabend erzähle ich von den Leuten, die Jahrzeit haben.« Es gibt eine Makkabi-Vereinigung, ein Sportstadion, eine Synagoge und eine Schule. »Die Gemeinde besteht aus etwa 120 Familien.« Moses erzählt, dass die deutschen Flüchtlinge zunächst ihre eigene Gemeinde bildeten.
Zwei erwachsene Kinder und drei Enkel hat der ehemalige Berliner. »Verheiratet bin ich mit einer Chilenin, die zum Judentum konvertiert ist.« Obwohl er im Juni seinen 90. Geburtstag feiert, ist der alte Mann geistig voll auf der Höhe. Er fährt noch selbst Auto und liest sehr viel deutsche Literatur, »am liebsten Geschichtsbücher und Biografien – wenn Sie wollen, könnte ich Ihnen einen Vortrag über Bismarck oder Friedrich den Großen halten.«
Die deutsche Kultur ist ihm immer noch sehr wichtig. »Ich bin ja bis heute deutscher Staatsbürger.« Stolz verweist Moses auf seine berühmte Verwandtschaft: »Der Komponist Giacomo Meyerbeer war ein Vetter meines Urgroßvaters.«
»Die Deutschstämmigen, die hier schon vor dem Krieg lebten, waren fast ausnahmslos Nazi-Sympathisanten«, erzählt Moses. »Die betrachten mich meist, als ob ich einer von ihnen wäre.« Nur wenige Ausnahmen gebe es, zum Beispiel einenfrüheren Leiter der deutschen Schule: »Das war der erste Deutsche der Nachkriegsgeneration, der einen ganz großen Eindruck auf mich gemacht hat. Er gehörte zu den 68ern.«
nazis Nach dem Krieg kamen auch viele flüchtige Nazis aus Deutschland nach Chile. »Besonders in den Süden, wo es ohnehin viele deutsche Auswanderer gab. Die haben die Nazis dort versteckt. Das war ziemlich unangenehm«, erzählt Moses. »Auch der Rauff war ja damals dort.« SS-Offizier Walther Rauff war am Mord von mindestens 250.000 Juden beteiligt. Er starb 1984 in Chile, ohne je für seine Taten belangt zu werden. Erst kürzlich kam heraus, dass der Massenmörder vier Jahre auf der Gehaltsliste des Bundesnachrichtendienstes gestanden und etwa 70.000 D-Mark kassiert hatte.
Karl-Heinz Moses hingegen kämpft immer noch um eine deutsche Rente. »Obwohl ich Zeugen hatte, ging der Prozess verloren.« Angeblich seien keine Einzahlungen in die Rentenkasse getätigt worden. »Das Einzige, was ich bekommen habe, war eine sogenannte Schulentschädigung über 5.000 D-Mark, weil ich wegen der Verfolgung nicht mehr zur Schule gehen konnte.«
Der Berliner Rechtsanwalt Christoph Partsch vertritt Moses in Deutschland. Er weiß von einer ganzen Reihe ähnlich gelagerter Gerichtsverfahren. »Die Sozialgerichte sind extrem formalistisch und kommen am Ende zu Urteilen, die schlichtweg inakzeptabel sind«, berichtet der Jurist. Er versuchte es auch mit zwei Schreiben an Mitglieder der Bundesregierung. Von Sozialministerin Ursula von der Leyen kam gar keine Antwort, das Bundesfinanzministerium von Wolfgang Schäuble verwies bloß auf den Rechtsweg, der Moses offenstehe.
Im April richtete der Bundestagsabgeordnete Jan Korte (Die Linke) eine kleine Anfrage an die Bundesregierung: »Bis heute hat Karl-Heinz Moses keinerlei Rente oder Entschädigung aus Deutschland bekommen und hofft auf ein Zeichen der Anerkennung für die nur noch kleine Auswanderergruppe deutscher Juden in Chile. Dies insbesondere vor dem Hintergrund, dass andere Exilanten nach Chile, darunter der NS-Verbrecher Walther Rauff, großzügig mit staatlichen Mitteln der Bundesrepublik Deutschland alimentiert wurden«, heißt es in der Eingabe.
beihilfe Nun stellt das Finanzministerium eine »einmalige Beihilfe« von 2.556 Euro in Aussicht, und teilt noch mit: »Sollte Herr Moses pflegebedürftig werden, könnte er als Verfolgter durch eine von der Jewish Claims Conference mit Mitteln der Bundesregierung geförderten Einrichtung betreut werden.« Jan Korte, der sich im Bundestag für Moses stark gemacht hat, ist damit nicht zufrieden: »Bedauerlich ist, dass die Bundesregierung im Kern nach wie vor darauf beharrt, dass es kein Problem und dementsprechend auch keinen Handlungsbedarf gibt. Das Schicksal von Herrn Moses und anderen zeigt ja gerade das genaue Gegenteil.«
Darauf verweist auch Karl Heinz Moses: »Es gibt hier in Viña del Mar noch einige deutsch-jüdische Flüchtlinge. Sie bekommen wie ich nur eine sehr kleine Rente. Drei sind bereits gestorben, sodass man sich beeilen muss, wenn es überhaupt noch etwas bringen soll.« Mit der nun bewilligten Einmalzahlung kann Karl Heinz Moses immer noch nicht in den wohlverdienten Ruhestand gehen.