Herr Stern, Sie haben im Zusammenhang mit dem umstrittenen »Holocaust-Gesetz« dem polnischen Ministerpräsidenten Morawiecki vorgeworfen, Opfer zu Tätern zu machen. Warum?
Er sprach bei der Münchner Sicherheitskonferenz im Zusammenhang mit dem Holocaust pauschal von »jüdischen Tätern«. Ich saß im Saal und war ziemlich perplex. Das Gesetz ist ganz klar ein Versuch, jene einzuschüchtern, die sich eingehender mit der polnischen Kollaboration während der deutschen Besatzung befassen. Es gab damals eben nicht nur mutige polnische Judenretter, sondern ganz viele, die Juden aus Geldgier und Niedertracht an die Nazis verrieten. Das sind zwei Seiten derselben Medaille.
Prallen hier zwei unterschiedliche Opfer-Narrative aufeinander?
Sicherlich. Polen war das erste Land, das von Hitler-Deutschland angegriffen wurde. Durch den Hitler-Stalin-Pakt wurde es geteilt. Es wäre doch seltsam, würde man das Leid, das Polen damals zugefügt wurde, nicht anerkennen. Aber der Holocaust, der sich gegen die Juden richtete, hatte eine weitaus schlimmere Dimension, er sah die totale Ausrottung jüdischen Lebens in Europa vor. Zur Erinnerung: Die Hälfte der polnischen Opfer waren Juden. Über 90 Prozent der drei Millionen polnischen Juden wurden ermordet.
Haben Sie dafür Verständnis, dass sich Warschau gegen die Bezeichnung »polnische Todeslager« wehrt?
Ja. Aber man sollte auf polnischer Seite auch zur Kenntnis nehmen, dass selten Vorsatz dahintersteckt, wenn diese Bezeichnung verwendet wird. Polen hat es nun mit diesem Gesetz geschafft, aus einer Mücke einen Elefanten zu machen. War es das wert?
Ihre Eltern waren Polen, die den Holocaust überlebten. Sie haben Ihnen vom Hass der Nachbarn und von den Pogromen erzählt. Wird Ihnen das Gesetz verbieten, darüber zu sprechen?
Nein. Die Wahrheit kann man nicht einfach per Gesetz verbieten.
Unterdessen nimmt die Zahl antisemitischer Taten und Äußerungen in Polen zu. Ist die jüdische Gemeinschaft des Landes die eigentliche Leidtragende?
Eindeutig ja. Und deshalb sollten wir alles versuchen, mit der polnischen Seite konstruktive Gespräche zu führen.
Das Gesetz sollte in dieser Woche in Kraft treten. Erwarten Sie, dass Warschau das Gesetz kippt?
Wir versuchen gerade, mit der polnischen Regierung ins Gespräch zu kommen, um zu sehen, ob es einen Weg aus der Sackgasse gibt. Die Emotionen haben sich sehr hochgeschaukelt, aber ich hoffe, dass das letzte Wort in dieser Sache noch nicht gesprochen ist.
Mit dem stellvertretenden Geschäftsführer des Jüdischen Weltkongresses sprach Detlef David Kauschke.